Bericht zur Frühjahrstagung: „Fontane, Brandes und die Anfänge der literarischen Morderne in Nordeuropa“

GEMEINSAME FRÜHJAHRSTAGUNG
VON FONTANE- UND BRANDES-GESELLSCHAFT
VOM 8. BIS 10. MAI 2015 IN FLENSBURG UND LØGUMKLOSTER (DK)
„FONTANE, BRANDES UND DIE ANFÄNGE
DER LITERARISCHEN MODERNE IN NORDEUROPA“

Von Barbara Lester und Ingeborg Bottrall

Robert Burns hat gesagt, wenn die Dinge sich anders ergeben als erwartet oder geplant: „The best-laid plans of mice and men …“, ein Zitat, das nie vollständig ausgesprochen, aber doch von jedem verstanden wird. Dazu könnte man im Fontane-Kontext noch vermuten, dass sich wieder einmal der rote Hahn im Stechliner See gefragt hatte, warum sich, in Anbetracht der bevorstehenden Frühjahrstagung unserer Gesellschaft, niemand vom Vorstand an besagtem See eingefunden hatte, um herauszufinden, ob den hoffnungsvoll anreisenden Fontanefreunden nicht eventuell wieder einmal Hindernisse in den Weg gelegt würden. Denn, siehe da, die deutschen Lokführer hatten darauf gesehen, dass vor unserem Wochenende die Bahn entweder ganz und gar streikte oder zumindest nur sehr unzuverlässig zur Verfügung stand. Wie gesagt, der rote Hahn hat sich gewundert. Aber nun können, trotz all der Transportschwierigkeiten, ihre Berichterstatterinen mitteilen, dass es Fontane- und in diesem Fall auch Brandesfreunde doch geschafft haben, zu einigen Dutzend in Flensburg auf dem Universitäts-Campus rechtzeitig zu erscheinen, wenn auch in vielen Fällen mit recht müden und von eigentlich nicht vorgesehenen Autofahrten erschöpften Gesichtern und Augen.

Die Aussicht auf die diesmal als Zweigespann konzipierte Tagung, nämlich Theodor Fontane und den dänischen Schriftsteller Georg Brandes quasi zu bündeln und gemeinsam in das Zeitgeschehen des 19. Jahrhunderts einzubetten, war von erstaunlich großer Anziehungskraft, obwohl wir uns in nicht ganz so großen Mengen‚ im ‘hohen Norden’ eingefunden hatten. Der erste Ort unseres Zusammenkommens, nämlich Flensburg, hatte schon durch das Brandes-Zitat‚ Flensburg entspräche dem Ruf der Langeweile, und der Erwähnung einer ansehnlichen Langeweile die Zuhörer zum Schmunzeln gebracht, weiter geführt durch Effi Briests Erklärung‚ ‘wie sehr ich mich nach etwas Vergnüglichem sehne …’, also nach Kopenhagen‚weg vom tristen deutschen Norden.Wir jedoch waren zufrieden.

Der Startschuss wurde vielversprechend durch die den Sektflaschen entzogenen Korken gegeben. Auch Kaffee und Kuchen von imposanter Vielfalt waren dazu angetan, die diversen Willkommensreden noch erfreulicher bei den Tagungsteilnehmern ankommen zu lassen. Zu erwähnen sind hier die Grußworte des Präsidenten der Universität, des Consuls des Königreichs Dänemark, der jeweligen Vorsitzenden der Fontane- sowie der Brandes-Gesellschaft, Professor Köstler und Professor Bauer und last but not least, Ulrike von der Golz, die Leiterin unserer Fontane-Sektion Schleswiger Land. Ihrem Engagement, der ungewohnten, interessanten und sehr geglückten Ortswahl in Dänemark unter ihrer aufmerksamen Schirmherrschaft haben wir es zu verdanken, dass diese anspruchsvolle Tagung als Erfolg in die Annalen dieser zwei literarischen Gesellschaften eingehen kann.

Nicht zu vergessen: die Tagung begann am 8. Mai, genau 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, ein Datum, das den Teilnehmern aus mehreren, im Krieg nicht auf derselben Seite stehenden Ländern, diese Konferenz noch besonders prägnant machte. Schließlich war Dänemark, wohin wir nach dem feierlichen Auftakt in Flensburg per Bus gefahren wurden, eins der von den Deutschen besetzten Länder gewesen. Heute kann man sich in unserem größtenteils vereinigten Kontinent über alle Grenzen hinweg wärmstens die Hände schütteln, was von einer Ihrer Berichterstatterinnen, seit langem ja offiziell nur „Engländerin“, mit besonderer Genugtuung wahrgenommen wurde.

Professor Bauer hatte uns aufs Schönste mit seinem Vortrag „Kulturlandschaft der Flensburger Förde“ auf den Inhalt dieser Doppeltagung, mit Geschichtlichem und Kulturellem, vorbereitet und uns gespannt mit Herz und Sinn der Dinge harren lassen, die da kommen sollten.

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Klosterkirche in Løgumkloster. Foto: B.Thiemann

Die Fahrt nach Løgumkloster, Dauer etwa eine Stunde im Abendsonnenschein, zeigte nicht nur das grüne dänische Flachland, sondern auch viele charakteristische Behausungen von nordischer Backsteinarchitektur, ein Beweis, dass es Goethes ‚unbehausten Mensch‘ dort offensichtlich nicht gibt. Kaum wollte eine Ihrer Berichterstatterinnen aber ihren Augen unterwegs trauen, als man durch die Busfenster auf großen Feldern die zwar zu erwartenden dänischen Schweine erspähte, man aber ob ihres freien Herumlaufens, aber ganz besonders wegen der Existenz zahlloser kleiner individueller Schweinehäuschen überall verstand, warum der vielgepriesene „Danish Bacon“ auf den Früstückstischen ein so großes Ansehen genießt – diese Schweine sind offensichtlich glücklich, in Unkenntnis ihres letztendlichen Schicksals!

Unser Ziel am Freitagabend war das Løgumkloster. Dort wohnten wir alle während des Tagungswochenendes, eine Neuheit, verglichen mit bisherigen Treffen, bei denen jeweils eine Anzahl von Hotels von den Teilnehmern in Anspruch genommen wurde.

Løgumkloster und seine Kirche, bekannt in alter Zeit auch als „Locus Dei’“, wurde um 1173 von den Zisterziensern gegründet und zählt zu den bedeutendsten und schönsten mittelalterlichen Kirchen Dänemarks. Wir, die diesen Ort erleben durften, schließen uns gern diesem Urteil an. Allerdings musste nicht so sehr die Aufforderung zu „Ora et labora“, doch ganz und gar die den Mönchen auferlegte Schweigepflicht in Anbetracht der Bestrebungen zum Ideenaustausch und zur Wissensvermittlung im Rahmen unserer Tagung ignoriert werden! Auch das wohlschmeckende Abendessen, so gar nicht nur asketisch vegetarisch gestaltet, hätte den früheren Mönchen wohl das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen. Ein Möbelstück, das den Teilnehmern ein klein wenig das klösterliche Ambiente nahe brachte, waren die für unseren weltlichen Geschmack doch recht schmalen Betten, jedoch ist, soweit bekannt, niemand zu nächtlicher Stunde von seiner/ihrer ‚Pritsche‘ gefallen.

Der Freitagabend, nach dem üppigen Büffet, wurde zu einem anpruchsvollen kulturellen Genuss in der Klosterkirche, nämlich durch das meisterhafte Cellospiel von Christina Meißner. Ihr Programm umfasste Solostücke, angefangen mit Hildegard von Bingen, über J.S. Bach bis hin zu Komponisten unserer Zeit. Der Kreis schloss sich wieder mit „O virtus sapientiae – O du Kraft der Weisheit“, wieder von Hildegard von Bingen. Wir Konzertbesucher in der Løgumkloster-Kirche wurden von den goldenen Figuren der Altarbilder angestrahlt und fühlten uns in höhere Regionen versetzt. Die oben erwähnte Weisheit wurde am nächsten Tag von uns Tagungsteilnehmern gefordert, wie natürlich auch von den Vortragenden zur Schau gestellt. Der Gang nach dem Konzert durch Kirche, Kreuzgang und Bibliothek, mit anschließendem geselligen, und gar nicht dem Schweigen gewidmeten, Beisammensein war ein rundum befriedigendes Erlebnis.

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Bibliotheksgebäude in Løgumkloster. Foto: B.Thiemann

Der folgende Tag, Samstag, brachte eine Programmänderung mit sich, da der Zürcher Kollege aus Krankheitsgründen abgesagt hatte. Jedoch sprang der dänische Dr. Flemming Finn Hansen mit Elan in die Bresche und führte uns so recht in medias res, d.h. die Gemeinsamkeiten der Autoren Fontane und Brandes, sowie ihr unterschiedliches schriftstellerisches Vorgehen. Fontane, Chronist der Bismarckzeit, der sich jedoch der bereits existierenden Umbruchsstimmung des ausgehenden 19. Jahrhunderts bewusst war, und Brandes als Parteigänger der Moderne lassen die Debatte als ein europäisches Phänomen erscheinen.

Für Nietzsche war Brandes „der gute Europäer“, was Brandes „vielleicht“ dazu inspirierte, Nietzsche im weiteren Europa bekannt zu machen. Herausgestrichen sein sollte die Notwendigkeit eines mit Zuwendung auch zum Fremden verbundenen Nationalgefühls – weg von exzessiver Vaterlandsliebe. Kosmopolitisches Denken wurde als Rettung Europas, ja der Welt gefordert. Im vereinten Europa unserer Zeit fällt dieser Diskurs auf fruchtbaren Boden!

Der zweite Vortrag von Dr. Christiane Barz brachte uns ihre Gedanken zu Fontane und dem Dänen Hermann Bang und zum Thema Realismus nahe, der neben der Sinnenwelt das Wahre vermitteln will. Auch Bang war ein Großstadtautor wie Fontane. Das bereits bestehende Entwicklungsstreben in der Gesellschaft wird von Bang weitergeführt zum Naturalismus hin. Ein emanzipatorischer Realismus wird angestrebt, jedoch konstatiert Fontane in Bezug auf Bang, dass bei ihm „Licht fehlt“. Bang strebt keine Gesellschaftsbeeinflussung an. Auch steht seiner Meinung nach Kunstanspruch vor Gesellschaftsanspruch. Bang und Fontane teilen die Bedeutsamkeit des Dialogs in ihren Werken. Ersterer liegt zwischen Realismus und Impressionismus, sieht die bindende Ordnung als Teil des inneren Wesens, freiwillig akzeptiert, wie bei Fontane das „Gesellschafts-Etwas“, gesehen als „Innenschau“.

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Blick in den Tagungsraum in Løgumkloster. Foto: M. Stoye

Das großartige dänische Mittagsbüffet ließ unsere erschöpften Mägen und Sinne wieder aufleben, sowie  auch die für Spaziergänge und Erholung auf dem Klostergelände vorgesehene längere Pause, bevor erneut unsere Anwesenheit im Vortrtagsraum verlangt wurde.

Der Vorsitzende der Brandes-Gesellschaft, Professor Bauer, nahm die in unserem Kontext relevante „Literarisierung der Politik“ und die „Politisierung der Literatur“ im 19. Jahrhundert unter die Lupe. Eine recht polemische Untersuchung der Gegenüberstellung von Macht und Ohnmacht, von Gemeinwohl und partikulären Interessen, befasst sich bei Brandes mit den politischen Strömungen im 19. Jahrhundert, u.a. dem Vormärz. Man erkennt bei Brandes, der auch Kontakt zu Heine hatte und dem Schnitzler 1927 eine Rede widmete, einen besonders starken Wunsch nach Reform des politischen Systems, ein eventuell ausgeprägteres Verlangen als bei anderen Bürgern, da die oben erwähnten Autoren alle jüdischer Abstammung und vielschichtigen Vorurteilen ausgesetzt waren. Ein für die Arbeiterbewegung wichtiger Befürworter war Lassalle, der bestrebt war, einen Ausgleich zwischen Arbeit und Kapital zu finden. Gegebenenfalls dürfe die Vergangenheit auch entschärft werden, um die Gegenwart zu schützen. In der Gegenüberstellung der Schriftsteller wird Fontanes politische Haltung als schwankend und unzuverlässig dargestellt, trotz seiner Neigung zum Vierten Stand. Der Literatur wird eine liberalisierende Funktion zugeschrieben, womit sie einen Beitrag zur Modernisierung der Gesellschaft leisten könne. All diese Ideen lassen sich beliebig über viele Grenzen hinweg realisieren, soweit die Gemüter aufnahmebereit sind oder gemacht werden.

Die Nachmittagszeit, freigeworden durch den Ausfall von Professor Müller-Wille, wurde hervorragend durch Professor Berbig mit Kostproben aus den Werken von Georg Brandes gefüllt. Für viele der Teilnehmer, nicht unbedingt mit dem Werk von Brandes vertraut, war es eine willkommene Ergänzung zum anspuchsvollen Fontane/Brandes/Bang-Programm. Professor Berbig hat sich wieder einmal um die Fontane-Gesellschaft verdient gemacht, indem er seine Mittagspause und einen Teil seiner Nachtruhe auf der klösterlichen Pritsche geopfert hatte, um uns diese exzellent vorgetragenen Ausschnitte zugute kommen zu lassen. Klar wurde, wie sehr deutsche und skandinavische Künstler, seien es Schriftsteller, Maler oder Politiker an Verflechtung und gegenseitiger Befruchtung teil hatten im 19. Jahrhundert.

Nach dem wieder sehr umfangreichen gemeinsamen Abendessen vergönnte uns Professor Bauer einen Einblick in das Leben und Werk des Malers Emil Nolde, heimisch in dieser nördlichen, zuweilen düsteren und rauhen Landschaft und vertraut mit dem Wechselspiel der Farben. Der abendfüllende und sehr informationsreiche Film war als Auftakt und Vorbereitung zu dem am Sonntagmorgen geplanten Besuch im Hause Noldes (ursprünglicher Familienname Hansen) in Seebüll gedacht.

Eine sehr einfallsreiche Neuerung bei dieser Tagung war die Idee der Sektionsleiterin, am Ende jedes Vortrags den Referenten einen ‚goodie bag‘ als Dankeschön zu überreichen!

Nach dem Frühstück am Sonntag nahmen wir Abschied von Løgumkloster. Die Professoren Fischer und Bauer bedankten sich bei den dänischen Gastgebern, wobei die hervorragende Unterbringung und die unklösterlich reichliche Verpflegung hervorgehoben wurden. Dr. Flemming Hansen übermittelte diesen Dank ans Personal, später auf Dänisch.

Der ursprüngliche Plan, Mögeltondern kurz zu besuchen – eine der Städte der deutschen Minderheit jenseits der Grenze – wurde geändert, und wir fuhren nach Nordfriesland, wo sich die Emil und Ada Nolde-Stiftung in Seebüll befindet.

Das ungewöhnliche Haus mit strenger Abgrenzung des Wohn- und Malbereichs war ursprünglich von Mies van der Rohe, einem Mitglied des Bauhauses, errichtet worden. Es wurde später von Nolde aufgestockt und mit einem Bildersaal im Obergeschoss ausgestattet. Unterhalb des Hauses befindet sich der Garten mit Teich, gut gegen Wind und Wetter geschützt.

Die Nachbarhöfe in dieser flachen Landschaft stellen kleine, reetgedeckte „Burgen“ für Mensch und Tier gegen Wind, Wetter und Flut dar. Es war Nolde ein großes Anliegen, die Masse seiner Bilder in der Landschaft auszustellen, aus der er seine Inspiration zog. Nach kurzer Erfrischung ging es weiter nach Flensburg, wo wir von der Stadtpräsidentin Svetlana Krätschmar empfangen wurden. Sie und ihr Mann sind beide als Mathematiker an den zwei Universitäten Flensburgs tätig. Ihre Rede spiegelte auch ihre eigenen Kentnisse des Werkes Fontanes wider, sowie ihr politisches Engagement als Stadtpräsidentin, besonders interessant für eine aus der Ukraine stammende Frau.

Mit ihrer Ansprache und Dankesworten unseres Vorsitzenden Professor Köstler fand diese Tagung dann ihren Abschluss. Ihre Berichterstatterinnen waren maßlos, aber angenehm, überrascht nach ihrer Rückkehr aus Deutschland zu finden, dass im englischen Fernsehen bei der BBC gerade jetzt eine dänische Serie läuft über den dänisch-preußisch-österreichischen Krieg von 1864. Hatten wir nicht gerade darüber ausführlich gesprochen? Wir „Engländer“ fühlten uns aufs Angenehmste zurückversetzt ins Schleswig-Holsteinische und all das im Laufe des Wochenendes Erlebte.

8. MAJ PÅ EUROPA-UNIVERSITET I FLENSBORG: Medlemmer af Brandes-selskabet og Fontane-selskabet mødtes til et 3-dages fæ…

Posted by Dansk Generalkonsulat i Flensborg on Tuesday, May 12, 2015

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