„Brief aus Berlin“ (40)

Von der Dicken Marie zur Begräbnisstätte der Humboldts

Dieses Mal nehme ich sie mit auf einen Ausflug in den Norden von Berlin, nach Tegel, genauer, in den Tegeler Forst. Es ist immer wieder erstaunlich, wie man in der großen Stadt plötzlich mitten in der Natur steht, meist aber nicht allein, weil viele den Wunsch haben, dem Treiben im Häusermeer zu entfliehen. Gotthard Erler schreibt, Fontane habe »als erster die Vorzüge märkischer Landschaft entdeckt und ins Bewußtsein seiner Zeitgenossen gehoben.« Und weiter: »Es ist zu bedauern, daß er ein geplantes Kapitel über besonders alte, originell gewachsene Bäume in der Mark nicht ausgeführt hat.« Im Band Havelland seiner Wanderungen schreibt Fontane über die Königseiche im Brieselang: »Sie führt ihren Namen mit Recht. Es ist ein majestätischer Baum, acht Fuß Durchmesser, achtzig bis hundert Fuß hoch; man braucht zwanzig Schritt, ihn zu umschreiten. […] Sein Alter [wird] auf tausend Jahre berechnet.

In den Tagen sich regenden deutschen Geistes, in den Tagen Jahns und der Turnerei, wurde die Eiche Wanderziel und Symbol. Dies war ihre historische Zeit. Damals vereinigte man sich hier, gelobte sich Treue und Ausharren und befestigte in Mittelhöhe des Stammes die Inschrifttafel, die bis diese Stunde dem Baum erhalten worden ist. Die Inschrift selbst aber, die um des Kaisergedankens willen, den sie ausspricht, in diesem Augenblicke wieder ein besonderes Interesse gewährt, ist die folgende:

Sinnbild alter deutscher Treue,
Das des Reiches Glanz gesehn,
Eiche, hehre, stolze, freie,
Sieh, dein Volk wird auferstehn.
Brüder, alle, die da wallen,
Her zu diesem heil’gen Baum,
Laßt ein deutsches Lied erschallen
Auf dem altgeweihten Raum:
Wie in Sturmeswehn die Eiche,
Stehet fest bei Treu und Recht,
Einend schirme alle Zweige
Einer Krone Laubgeflecht.«

»Nicht voll so alt wie die Brieselang-Eiche, von der ich im letzten Kapitel erzählt habe, aber doch auch ein alter oder sehr alter Baum ist die Eibe, die in dem Parkgarten hinter dem Herrenhause steht.« Hier, wo sich heute der Bundesrat befindet, stand das Haus des Bankiers Abraham Mendelssohn Bartholdys, in dessen Garten die Kinder Fanny und Felix musizierten. »Felix Mendelssohn, halb ein Knabe noch, hörte unter seinem [des Eibenbaum] mondlichtdurchglitzerten Dach die Musik tanzender Elfen.«

In Fontanes Werk ist immer wieder von Bäumen die Rede. Liegt das auch an den prägenden Kindertagen? »Begreiflicher als die Versteckspiel-Freude war die Lust am Klettern, wozu, neben anderem, die dicht vor unserem Hause stehenden Kastanienbäume mich geradezu herausforderten. Auf den unteren Ästen sich einlogieren, das konnte jeder; aber von der höchsten Spitze her einen blühenden Zweig herunterholen, das war ein lohnender Ehrgeiz, dem ich beinahe mal zum Opfer fiel.« Fontane schreibt über den Birnbaum des Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, seinem bekanntesten Gedicht. In der Novelle Grete Minde darf Grete entscheiden, ob Valtin im Klostergarten der Nonnen von Arendsee unter einem Birnbaum oder Flieder begraben wird. Im Stechlin erfahren wir von Woldemar im Gespräch mit Czako: »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie gern ich in diesem Garten bin. Allen Ernstes. Ich habe hier nämlich als Junge hundertmal gespielt und in den Birnbäumen gesessen.«

Wir aber gehen heute in den Tegeler Forst zum ältesten Baum Berlins, der »Dicken Marie«, deren Alter auf über 800 Jahre geschätzt wird. Der Umfang beträgt 5.98 Meter, ein Naturdenkmal, dem man sein Alter ansieht. Fontane hat den Baum nicht erwähnt, was um so verwunderlicher ist, da schon Johann Wolfgang von Goethe diesen Ort 1778 besuchte, wie nicht ohne Stolz auf einem angebrachten Messingschild geschrieben steht. Wie aber kam der Baum zu seinem Namen?

Nicht weit von hier liegt das Schloss Tegel, auch Humboldt-Schloss genannt. Hier verbrachten Wilhelm und Alexander von Humboldt in ihrer Kindheit die Sommermonate. Beim Durchstreifen des Waldes entdeckten sie den alten Baum und wie Kinder so sind, gaben sie ihm den Namen »Dicke Marie«, in Anspielung auf die wohlbeleibte Köchin im Schloss.

Vom Garten der Humboldts zum Baum sind es nur wenige Schritte. Das Gartentor aber ist heute verschlossen, so dass wir zur anderen Seite müssen, und vom See her an den Baum herantreten.

Zurück zum Schloss, das nach Plänen von Karl Friedrich Schinkel erbaut wurde und noch heute von Nachkommen der Humboldts bewohnt wird. Ab und an gibt es auch Führungen durch einen Teil des Hauses. Ich selbst hatte bei einer solchen das Glück, Originalwerke von Christian Daniel Rauch zu besichtigen. Vom Fenster zum Garten hin sehen wir im hinteren Teil des Parks eine Granitsäule. Wir spazieren durch den öffentlich zugänglichen Park, vorbei an der wohl vierhundert Jahre alten Humboldteiche, bis ganz an das Ende der Wiese, wo sich die Begräbnisstätte der Humboldts befindet. Wilhelm von Humboldt ließ für die Grabstätte seiner Frau Caroline die erwähnte Granitsäule errichten mit einer von Bertel Thorwaldsen in Mamor geschaffenen römischen Göttin Spes, der Göttin der Hoffnung. Schon zu Lebzeiten sahen die Humboldts von ihrem Wohnhaus auf die Begräbnisstätte und diese erinnerte sie stets daran, dass der Tod zum Leben gehört. Fontane schreibt über den Friedhof: »Dieser besteht aus einem eingegitterten Viereck, an dessen äußerstem Ende sich eine dreißig Fuß hohe Granitsäule auf Quaderstufen erhebt. Von dem ionischen Kapitäl der Säule blickt die Marmorstatue der ›Hoffnung‹ auf die Gräber herab.« Hier liegen unter anderem Wilhelm und Alexander von Humboldt begraben, und bis in unsere Zeit werden Nachfahren hier beerdigt. Was Fontane schrieb, gilt noch heute: »Wenn ich den Eindruck bezeichnen soll, mit dem ich von dieser Begräbnisstätte schied, so war es der, einer entschiedenen Vornehmheit begegnet zu sein. […] Im Herzen dessen, der diesen Friedhof schuf, war eine unbestimmte Hoffnung lebendig, aber kein bestimmter siegesgewisser Glaube. Ein Geist der Liebe und Humanität schwebt über dem Ganzen, aber nirgends eine Hindeutung auf das Kreuz, nirgends der Ausdruck eines unerschütterlichen Vertrauens.«

Wir lassen an diesem Ort Fontanes Worte nachklingen: »Nur Schloß Tegel hat […] jenen Geist, der, gleich weit entfernt von Orthodoxie wie von Frivolität, sich in Mitten der klassischen Antike langsam, aber sicher auszubilden pflegt und lächelnd über die Kämpfe und Befehdungen beider Extreme, das Diesseits genießt und auf das rätselvolle Jenseits hofft.«

Im vorletzten Brief habe ich gefragt, ob jemand weiß, wo Fournier, der Fontane konfirmiert und getraut hat, begraben liegt. In einem Brief Fontanes heißt es: »Nur unsren alten Fournier habe ich noch mal predigen hören, wo er, in der weißgetünchtesten aller Kirchen (Koloniekirche, Klosterstraße) den Himmel Gottes ganz nach dem Rezept der Quattro Cento-Maler beschrieb.« Gemeint ist hier die Kirche der Französischen Gemeinde, die zurückversetzt in der Klosterstraße stand. Später wurde zur Straße hin ein Wohnhaus gebaut, so dass die Kirche nur durch einen Durchgang erreichbar war. Es sei hier auf den Beitrag von Bernd Seiler  »Die Fontanes und ›ihre‹ Französische Kirche« in den Fontane Blättern 110 verwiesen. Ob Fournier wie sein Nachfolger Devaranne und das Ehepaar Fontane auf dem Französischen Friedhof in der Liesenstraße begraben wurde, ist nicht bekannt. Eugene Devaranne war der Prediger, der auf Theodor Fontanes Beerdigung sprach.

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