Theodor Fontanes Weg durch die Salons zur bildenden Kunst

Anlässlich des 200. Geburtstages von Adolph Menzel

Von Paul Irving Anderson

 

Sehr verehrte Damen und Herren,

wenn Sie den Namen Theodor Fontane hören, denken Sie wahrscheinlich an Romane, Gedichte, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, aber nicht an Gemälde und Skulpturen. Dieses Thema bei Fontane scheint zunächst so gegenstandslos wie die hier ausgestellten Bilder von Sonja Streng zu „Hilversum“ und „Stendahl“. Aber diese beiden Bände, Aufsätze zur bildenden Kunst, beweisen das Gegenteil auf beinah 800 Seiten Text, die auf mehr als 400 Seiten erläutert werden. Diese Bände werden zwar nur von Spezialisten gelesen, dabei enthalten sie einen Schlüssel zum Leseerlebnis von seinen berühmtesten Werken. Diesen Schlüssel findet jeder Leser aber ganz einfach, wenn er nicht nur die Worte, sondern auch die genannten Gemälde und angedeuteten Naturbilder als Mitteilungen des Dichters auffasst. Wie das geht, zeige ich Ihnen an Beispielen später.

Als Heinrich Theodor Fontane am 30. Dezember 1819 in Neuruppin geboren wurde, wurde ihm die Kunst weder in die Wiege gelegt, noch beigebracht. Seine Eltern haben ihm gutes Aussehen vererbt und gute Manieren anerzogen, aber schlecht gewirtschaftet. Er konnte nicht Abitur und keine Reisen in seiner Jugend machen – außer einer organisierten Kurzreise nach London. Stattdessen bekam er die Ausbildung eines Apothekers. Schon als Teenager begann er, Lyrik und Balladen zu schreiben. Als Berufsschüler und Lehrling mischte er sich unter Gleichgesinnte, als Apothekergehilfe auf Wanderjahren in Leipzig und Dresden mischte er sich unter radikale Studenten. Zurück in Berlin lernte er den Jungoffizier Bernhard von Lepel kennen, der ihn in den literarischen Sonntagsverein Tunnel über der Spree einführte. 1847 machten ihn die höheren Söhne im Tunnel zu ihrem Idol, als er seine berühmten Balladen über preußische Kriegshelden vortrug.

Der Tunnel gab Fontane ein Podium, brachte ihm Disziplin bei und öffnete wichtige Türen, aber ein richtiger Salon war er nicht, sondern ein Männerverein. Dort wurde ordentlich protokolliert, kritisiert und abgestimmt, ob der Span, d.h. der vorgelesene Beitrag, gefallen hatte. Die Salonkultur war ursprünglich zwar literarisch ausgerichtet und gehoben, aber gemischt und vor allem gesellig. Nicht die Referenten, sondern die Gastgeberin gab den Ton an; anspruchsvolle Unterhaltung in geselligem Rahmen war gewünscht, also wie ein richtiges Lesepublikum. Daher führte Lepel Fontane auch in den Salon der Gräfin Schwerin ein, wo neue, noch unveröffentlichte Lyrik gern angehört wurde. Doch von Malkunst und Kunstgeschichte hatte er mit achtundzwanzig noch keine rechte Ahnung.

Dann kam seine erste große Probezeit, die Revolution von 1848. Obwohl Fontanes linke Gesinnung im Tunnel bekannt war, ließ man ihn nicht fallen – er war zwar ein Linker, aber auch ein Patriot – sondern bat ihn um Erneuerungsvorschläge. Unter den damals aufgenommenen neuen Mitgliedern war der Kunsthistoriker Franz Kugler, vortragender Rat im Kultusministerium und Autor des Buches Geschichte Friedrichs des Großen aus dem Jahr 1842. Kuglers schönes Buch war von einem noch wenig bekannten Künstler mit feinsten Holzschnitten illustriert worden. Er hieß Adolph Menzel, geboren vor 200 Jahren und 2 Tagen in Breslau. Diesen Umstand konnte ich unmöglich sang-und-klanglos vorbeiziehen lassen und habe mich kurzfristig entschieden, Menzels Einfluss auf Fontane heute in den Mittelpunkt zu stellen. So verschieden sie waren, waren sie beide Autodidakten, hatten die gleichen Themen und Ziele, und sie waren nie zufrieden.

Während der 1840er Jahre hatte Menzel begonnen, über das Thema Friedrich der Große zu malen. Bei Fontane funkte es am 2. Juni 1850. Lepel hatte ihn überredet, Menzels ausgestelltes Ölgemälde Tafelrunde Friedrich II. in Sanssouci zu besichtigen. Im folgenden Oktober wurde Adolph Menzel in den Tunnel über der Spree aufgenommen und jahrelang trafen sie sich im kleineren Kreis des Rütli.

Was Fontane an Menzels Malkunst gleich beeindruckt hat, steht in einer kleinen Menzel Biographie aus dem Jahr 1862. Darin sagt er zu Menzels Illustrationen in Kuglers Friedrich-Buch:

Diese Kompositionen (Holzschnitte) fesseln durch einen unendlichen Reichtum an Originalität, Witz und gutem Humor, und der Beschauer schwankt, was er mehr bewundern soll, das dramatische Kompositionstalent, das in den Gestalten lebt, oder die historische Treue, die aus der gewissenhaftesten Beobachtung der Kostüme spricht.1

Bei Fontanes Auflistung von Menzels Tugenden hat man nicht zufällig den Einruck, er spreche dabei von seinem Ideal als Schriftsteller. Alle Punkte, außer den Kostümen natürlich, findet man in seinen Romanen wieder. Menzel malte aber nicht nur genau, sondern auch – unparteiisch und objektiv – preußische Niederlagen und gefallene Soldaten. Ebenfalls 1862 startete Fontane seinen ersten nachhaltigen Versuch, einen Roman zu schreiben. (In der ersten Fassung sollte der Held am Schluss standrechtlich erschossen werden.) Neun Jahre später (der Roman, ließ noch auf sich warten, der Held überlebte inzwischen) schrieb Fontane an Menzel, dessen Forcen seien „das historische Gepräge innerhalb des Genre, das Hineinragen des Großen in das Kleinleben“2; das sind auch die Stärken von Fontanes Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812-13.

Auf das Gemälde Tafelrunde Friedrich II. in Sanssouci hat Fontane bis zu seinem Lebensende immer wieder Bezug genommen. Wer in der späteren Reichshauptstadt Berlin über Kultur Bescheid wusste, wusste auch, wie nahe sich Fontane und Menzel standen. Und das hatte merkwürdige Folgen. Zum 70. Geburtstag des Malers (1885) erschien Fontanes Gedicht Auf der Treppe von Sanssouci. Zum Inhalt: Der Dichter macht einen Winterspaziergang im Park Sanssouci. Als er die Stelle erreicht, wo Sommers die große „Fontaine“ in die Höhe schießt, kommt ihm der alte Fritz entgegen und fragt nach seinem Namen und Beruf. „Schriftsteller Majestät. Ich mache Verse“, darauf der König,

„Dergleichen sagt nur, wer es sagen muß, / Der Spott ist sicher, zweifelhaft das andre. Poëte allemand! Ja, ja, Berlin wird Weltstadt. / Nun sag Er mir, ich les da täglich […] von Menzelfest und siebzigstem Geburtstag, / Ausstellung von Tableaux und Peintüren / Und ähnlichem. Ein großer Lärm. Eh bien, Herr / Was soll das? Kennt Er Menzel? / Wer ist Menzel?“

Dann folgt die lange Liste von Menzels Themen – aber der König kennt das schon. Er möchte Menzel ein Geschenk machen und bittet um Vorschläge, aber der Sprecher meint, der habe schon alles. Daraufhin Friedrich,

„Aber eines sagt ihm: / Ich lüd ihn ein (er mag die Zeit bestimmen, / Ein Jahrer zehne will ich gern noch warten), / Ich lüd ihn ein nach Sanssouci; sie nennen’s / Elysium droben, doch es ist dasselbe.“3

Dieses makabere Gedicht hat den Kronprinzen und ganz Berlin begeistert. Bloß Menzel war es nicht. Fontane war perplex und meinte, vielleicht sei er unzufrieden, nur noch zehn Jahre Leben gewünscht zu bekommen – in der Tat wurden zwanzig daraus. Vor wenigen Jahren hat sich ein Germanist mit viel List an Fontanes Gedicht gemacht und die Tücke darin gefunden: während Fontane anscheinend Menzel feierte, hat er zwischen den Zeilen sich selbst als den „großen Fontaine“, der sogar Goethe überstrahlen würde, gefeiert.4 Ich meine, Fontane hat vergessen, dass sein alter Freund auch seine Kunst durchschauen konnte. Dabei muss man das Wort ‚Freund’ mit Vorsicht gebrauchen; selbst die allwöchentlichen Treffen des Rütli haben keine wirklichen Freunde aus ihnen machen können.

Zehn Jahre später feierte Fontane Menzels 80. Geburtstag mit einer kleinen Biografie in der Wochenschrift Die Zukunft. Über den Menschen Menzel schrieb er, „nie bloßer Lebensklugheit nachgebend, ist ihm innerhalb der moralischen Welt alles Marchandieren fremd.“ Und dann dieses Beispiel: „ … als unser Menzel […] eben seinen Namen unter eine gegen die geplante Umsturzvorlage sich richtende Petition gesetzt hatte, lud ihn, als Antwort darauf, sein junger Kaiser nach Sanssouci hinauf, …“5 Wie in Fontanes Gedicht zehn Jahre zuvor, ließ Kaiser Wilhelm II. am 14. Juni 1895 die Tafelrunde Friedrich II. in Sanssouci als detailgetreues Kostümfest nachstellen und im Kostüm des Generalleutnants von Lentulus verlieh er Menzel das Adelsprädikat. Fontane, als heimlicher Inspirator dabei, empfand „patriotische Erhebung“ und schrieb Menzel dazu,

[…] die Szene [… hat] etwas ungemein Forsches, Farbenreiches und Wirkungsvolles, das der Welt Augen auf uns lenkt und unsrem preußischen Leben nach außen hin ein Lustre gibt, dessen es im Allgemeinen – und zwar auch zu unsrem politischen Nachteil – zu sehr entbehrt.6

Seine differenzierte, persönliche Meinung über Menzels Kunst teilte Fontane dem Herausgeber der kleinen Biografie, Max Harden, aber wie folgt mit:

Ich habe mein Leben unter Malern verbracht, Sie können sich also denken, was ich da alles gehört, was ich da alles von lächelndem Achselzucken gesehn habe. Diesen Anzweifelungen bin ich oft gefolgt und etliche Zweifel […] hege ich noch. Dazu: das Schöne war nie seine Sache. Dennoch halte ich ihn – und ich darf sagen daß ich eine große BilderKenntniß habe, fast wie ein Auktionator – für den größten lebenden Maler. Was wir in Deutschland haben, reicht nicht an ihn heran und die besten Nummern der 3 romanischen Völker, die im Einzelnen ihn übertreffen (mitunter sehr) haben doch keine Spur von der Allumfassendheit des kleinen Mannes.7

Fontane hat sich mit Menzel derart identifiziert, dass es ihm schwerfiel, die Unterschiede klar abzustecken. Unser Zeitgenosse Rolf Hochhuth hat also gefragt, was Fontane mit „das Schöne war nie seine Sache“ gemeint habe, und sogleich geantwortet: „’Schönheit im erotischen Sinne!’ […] Er vermisste jenen ‚Hauch der Poesie’, durch den für ihn ein Kunstwerk erst seine Adelung erhielt.“8

Für diesen langen Diskurs über Fontane und Menzel möchte ich mich halb entschuldigen, denn angekündigt hat Sigi Zaiß einen Vortrag zum Thema Fontane und die Berliner Salons. Doch tatsächlich hat das Schicksal die Dinge miteinander verknüpft und zwar so: als Fontane die Bekanntschaft von Menzel und Kugler machte, kam er automatisch in den Salon von Kuglers Frau Klara. Die Kuglers wiederum waren schon lange Habituées in dem auf die bildenden Künste ausgerichteten Salon der Hedwig von Olfers. Hedwigs Ehemann Ignaz von Olfers war nämlich Generaldirektor der Königlichen Museen in Berlin.9 Die Expertin für Berliner Salons, Petra Wilhelmy-Dolliger schreibt dazu, „Die Bedeutung der bildenden Kunst in den Berliner Salons nahm seit der Biedermeierzeit stetig zu und erreichte während der Regierungszeit Friedrich Wilhelms IV. einen Höhepunkt.“10 Zwar war Klara Kuglers Mann Franz Kunsthistoriker, aber mit Schriftstellerehrgeiz. Deswegen trat er in den Tunnel ein, aber er muss den weiblichen touch vermisst haben. 1852 spaltete sich eine kleinere Gruppe hybrider Künstler vom Tunnel ab. Sie nannten sich Rütli, bezogen ihre Frauen mit ein und trafen sich mal beim einen, mal beim anderen Mitglied.

Im Gegensatz zum Salon Olfers ging es bei Klara Kugler leger zu. Wilhelmy Dollinger charakterisiert Klaras Salon als spätromantisch-biedermeierlich und äußerlich anspruchslos.11 Umso künstlerisch anspruchsvoller ging es dort zu, und Menzel war oft dabei. Unter den weiteren Gästen machte Fontane die nachhaltige Bekanntschaft von Künstlern und Kunstexperten.

Schon 1855 schickte die Regierung Fontane als Presseagent nach London, wo er in seiner Freizeit Feuilletons herausbrachte. Seine Berichte für Berliner Zeitungen über bedeutende Kunstausstellungen 1856 und 57 gerieten zu langen Abhandlungen über englische Malkunst und die Möglichkeiten des Kulturaustauschs. Die intensive Zeit mit Kugler, Menzel, und den anderen Rütlianern hatte ihm die künstlerischen Augen so weit aufgemacht, dass er einen bedeutenden Beitrag zur Kunstkritik liefern konnte. Das muss gut angekommen sein. Als Presseagent hatte Fontane wenig Glück gehabt, aber trotzdem behielt man ihn als Presseattaché bei.

Diese Lebensphase hat Fontane in seinen letzten Roman, Der Stechlin hineingearbeitet. Wie in einem Salon, wo Kunst, Wissenschaft und Politik im lockeren Rahmen unter Experten und Liebhabern besprochen werden, geht es in der Wohnung des Botschaftsrats a.D. von Barby und seiner Töchter zu. Die ältere, in der Schweiz und England aufgewachsene, in Rom verheiratete und wieder geschiedene mit dem Märchennamen Melusine spielt die Rolle der Salonière (obwohl sie nie als solche tituliert wird). Um die in London geborene jüngere Tochter des Hausherrn, Armgard, wirbt der junge Offizier Woldemar von Stechlin erfolgreich.

Einer der Habitués im Salon der Melusine von Barby ist der Maler und Peter Cornelius-Schüler Cujacius, der alles besser weiß. Der junge Stechlin, von einer kurzen politischen Reise nach London zurückgekehrt, gesteht ihm, er hätte sich „auch gern um Künstlerisches gekümmert, speziell um Malerisches. So zum Beispiel um die Schule der Präraffaeliten“12 und wird von Cujacius vorgeführt, weil er den Franzosen Millet mit dem englischen Millais verwechselt.

Bei Melusine von Barbys Salon könnte Fontane an den zeitgenössischen Salon der Marie von Bunsen gedacht haben. Marie war die Enkelin des Londoner Gesandten von Bunsen zurzeit von Fontanes erstem Aufenthalt dort. Leider verliert Bunsen kein Wort über den Stechlin in ihren Memoiren. Vielleicht wusste sie, dass ihr Großvater Fontane aus parteiischen Gründen hatte links liegen lassen. Aber Fontane gestaltet seine gewandtesten Figuren und schönsten Erinnerungen im Salon einer Vollbluteuropäerin – die er nach der Lou Andreas-Salomé aus Sankt Petersburg porträtiert.

Der London-Aufenthalt endete, als Friedrich Wilhelm IV., nach Schlaganfällen redeunfähig geworden, die Regentschaft an seinen Bruder Wilhelm abgeben musste. Fontane sah voraus, dass die neue Regierung ihn entlassen würde, kündigte vorsichtshalber und fuhr Anfang 1859 nach Hause. Nach einem gescheiterten Neuanfang als offiziöser Korrespondent begann er mit seinen märkischen Wanderungen. Doch als er das Kultusministerium um ein Stipendium dafür ersuchte, schwärzte sein alter Chef ihn an. Da schrieb der Rütlianer, Kunsthistoriker Karl Schnaase, eine Empfehlung fürFontane, die den Minister zu dessen Gunsten entscheiden ließ. Neue Unterstützung fand Fontane bei den Salonièren Gräfin Sophie von Schwerin und interaktiv sogar bei Mathilde von Rohr.

Bis sein erster Roman 1878 erschien, berichtete Fontane regelmäßig und kritisch über Kunstausstellungen und bis ins Jahr 1891 besprach er kunsthistorische und kunstkritische Bücher. Allerdings ist es ein Unterschied, ob der Autor eine Technik bespricht, oder sie einfach anwendet. Das ist, vereinfacht gesagt, der Unterschied zwischen Der Stechlin und Werken wie Irrungen, Wirrungen und Effi Briest. Aus jedem davon möchte ich Ihnen die versprochenen Beispiele für Fontanes Kunst zeigen, die mit Bildern spricht und mit Worten abbildet. Diese Technik bezeichnet die Interpretation als „disguised symbolism“, ein Begriff, den der Kunsthistoriker Erwin Panofsky selbst auf Fontane angewandt hat.

Wie funktioniert denn diese, „verkleidete Symbolik“? Manchmal benutzt Fontane sinnige oder hintersinnige Fotos oder Bilder, wie in dieser Szene in Irrungen, Wirrungen, Kapitel 12: Der Gardeleutnant Botho von Rienäcker und die Kunststickerin Lene Nimptsch – Fußnote: beachtenswert die hier ausgestellten Bilder der „Kunststickerin“ Dorothee Herrmann. – haben ein Zimmer in einer Wirtschaft am Ufer der Dahme genommen. Am Abend hält Botho erst einmal ein Schwätzchen mit dem Wirt, während Lene das Zimmer mustert. Dabei fällt ihr Blick auf drei Bilder an der Wand. Das dritte Bild stellt die Verführung eines Dienstmädchens dar und trägt den Untertitel „si jeunesse savait“. Fontane schreibt, Lenes „feine Sinnlichkeit fühlte sich von dem Lüsternen in dem Bilde wie von einer Verzerrung ihres eignen Gefühls beleidigt.“ Und die fremdsprachlichen Titel lassen sie die soziale Kluft zwischen sich und Botho fühlen. Das sind psychologische Selbstverständlichkeiten, aber die Symbolik interpretiert diese Liebesgeschichte als eine „wirkliche Allegorie“ eines größeren Zusammenhangs, wie zu zeigen ist.

Für den Kunsthistoriker Peter-Klaus Schuster, der Panofskys Begriff der verkleideten Symbolik auf Fontanes Romanwerk im Detail angewandt13 und meine Augen dafür geöffnet hat, handelt es sich bei diesem Bild um französische Trivialkunst, eine Lithografie aus dem Zyklus „Le fruit défendu“.14 Es ist eben Trivialkunst und entspricht der Empörung mancher Zeitgenossen über Fontanes Roman.

Die literarische Jugend dagegen war begeistert. Ihnen gefiel das erste der drei Bilder, Emanuel Leutzes Gemälde „Washington crossing the Delaware“. Es zeigt General Washington stehend im einem von mehreren Booten voller Soldaten, die in der Nacht vom 25. auf 26. Dezember 1776 den Delaware überqueren, um die deutsch-englische Besatzung in Trenton, New Jersey, anzugreifen. Dieses Bild scheint fehl am Platz zu sein, es sei denn als Hinweis auf eine Allegorie der erfolgreichen Revolution. Könnte man es auf die Handlung beziehen, dann würde Bothos „kleine Demokratin“ die Dame ohne h, nämlich Bothos nach standesgemäßer Hochzeit drängende Mutter besiegen und das Rittergut derer von Rienäcker im Sturm nehmen.

Fontane verneint auch diese Deutung bildlich: Lene schaut zum Fenster hinaus, sieht das schimmernde Mondlicht auf dem Fluss und findet es schön. Draußen ist nicht Weihnachten, sondern Peter und Paul, der 28.-29. Juni, dazu Vollmond: da kann keine Armee einen Angriff unentdeckt starten, und Botho ist kein Revolutionär. Die Zeit ist nicht reif dafür, aber es ist eben nur eine Frage der Zeit.

Das für mich Überzeugendste an Schusters Arbeit ist seine Erläuterung der Anfangskapitel von Effi Briest. Sie erinnern sich: die sechzehnjährige Effi spielt mit den Töchtern des Pfarrers und des Kantors im Garten und erzählt ihnen davon, dass sie Besuch von einem Jugendfreund ihrer Mutter bekommen haben. Dann ruft die Mutter sie herein, um ihr mitzuteilen, dass ihr alter Verehrer, der Landrat Geert von Innstetten, gerade um Effis Hand angehalten hat – ein Angebot, das sie nicht ablehnen dürfe, „so stehst du mit zwanzig Jahren da, wo andere mit vierzig stehen“. Ein Jahr danach bringt Effi ihr einziges Kind zur Welt.

Was für verkleidete Symbolik erkennt Schuster hier? Er zeigt auf, wie ein Detail ums andere der Ikonografie der Verkündigung Mariae entstammt: der Altarteppich, woran sie und die Mutter arbeiten, ihr weißumrandetes blaues Matrosenkostüm, der Fliesengang, der „hortus conclusus“ des Schlossgartens – das alles gehört seit dem späten Mittelalter zur Ikonografie der Verkündigung. Außerdem erschrickt Effi wie Maria vor dem Zureden der Mutter und hat Angst vor ihrem „blendenden“ Verkünder. Die bevorstehende Geburt deutet sie mit einer Weihnachtskarte an die Mutter an, also rein bildlich.

Andere Details passen jedoch zu Eva im Garten Eden, etwa wie Effi sich lustig macht über Feigenblätter, von Liebesgeschichte mit Verzicht und der Todesstrafe für Untreue schwärmt, wovon Kandidat Holzapfel erzählt hatte. Innstetten nennt sie „kleine Eva“ und ihr Arzt beschreibt ihr Simulieren mit den Worten „Evastochter comme il faut“. Die Symbolik aus Wort und Bild macht deutlich, dass diese Redensarten mehr sind als bloße Redensarten.

Besonders sinnig gestaltet Fontane Effis Begegnung mit der Roswitha im 13. Kapitel. Wenige Wochen vor der Niederkunft, am verhängnisvollen Johannistag, geht Effi allein spazieren, schämt sich ihrer weitschweifenden Phantasien und begegnet der wegen eines außerehelichen Kindes ausgestoßenen Roswitha Gellenhagen. Als Effi ihr anbietet, für ihr Kind als Kindermädchen zu arbeiten, dankt Roswitha ihr mit rührender katholischer Inbrunst „O Du lieber Gott, o Du heil’ge Jungfrau Maria“ – eine faustdicke Anspielung auf die Heimsuchung Mariae.

Die Sprache der Passion wiederum sprechen der „Mastbaum […] mit Rahen und einer Strickleiter“, den der Vater ihr versprochen hat, der wilde Wein an den Fenstern des Seitenflügels und die Kreuze, die ihr Körper beim Turnen beschreibt. Effi ist ein Naturkind, wie der Vater sagt, also eine Eva-Figur, die in die Rolle einer braven Maria hineingezwungen und deswegen dem Sündenfall anheimfallen wird. So Schuster. Je geschulter das Auge, desto klarer der Sinn des Textes.

Fontanes verkleidete Symbolik ist nicht auf traditionelle Ikonografie beschränkt. Im vierten Kapitel von Effi Briest benutzt er eine politisch sprechende Farbkombination, um Effis erotische Wunschvorstellung zu allegorisieren – und wiederholt diese im Schlusskapitel. Nachdem Effis Aussteuer eingekauft ist, fragt Frau von Briest, ob sie noch irgendeinen heimlichen Wunsch habe:

„Nein, wirklich nichts; ganz im Ernste … Wenn es aber doch am Ende was sein sollte … Nun …“ „… So müßt es ein japanischer Bettschirm sein, schwarz und goldene Vögel darauf, alle mit einem langen Kranichschnabel … Und dann vielleicht auch noch eine Ampel für unser Schlafzimmer, mit rotem Schein.“ Frau von Briest schwieg.

„Nun siehst du, Mama, du schweigst und siehst aus, als ob ich etwas besonders Unpassendes gesagt hätte.“

„Nein, Effi, nichts Unpassendes. Und vor deiner Mutter nun schon gewiß nicht. Denn ich kenne dich. Du bist eine phantastische kleine Person, malst dir mit Vorliebe Zukunftsbilder aus, und je farbenreicher sie sind, desto schöner und begehrlicher erscheinen sie dir. Ich sah das so recht, als wir die Reisesachen kauften. Und nun denkst du dir’s ganz wundervoll, einen Bettschirm mit allerhand fabelhaftem Getier zu haben, alles im Halblicht einer roten Ampel. Es kommt dir vor wie ein Märchen, und du möchtest eine Prinzessin sein.“

Effi nahm die Hand der Mama und küßte sie. „Ja, Mama, so bin ich.“

„Ja, so bist du. Ich weiß es wohl. Aber meine liebe Effi, wir müssen vorsichtig im Leben sein, und zumal wir Frauen. Und wenn du nun nach Kessin kommst, einem kleinen Ort, wo nachts kaum eine Laterne brennt, so lacht man über dergleichen. Und wenn man bloß lachte. Die, die dir ungewogen sind, und solche gibt es immer, sprechen von schlechter Erziehung, und manche sagen auch wohl noch Schlimmeres.“

„Also nichts Japanisches und auch keine Ampel, Aber ich bekenne dir, ich hatte es mir so schön und poetisch gedacht, alles in einem roten Schimmer zu sehen.“ Frau von Briest war bewegt. Sie stand auf und küßte Effi. „Du bist ein Kind. Schön und poetisch. Das sind so Vorstellungen. Die Wirklichkeit ist anders, und oft ist es gut, daß es statt Licht und Schimmer ein Dunkel gibt.“15

Im Kaiserreich wurde die Farbkombination schwarz-rot-gold als „die freie Republik“ gedeutet, also als staatsfeindlich. Seit 1948 sind das die Farben der Bundesrepublik Deutschland: spricht uns diese Allegorie trotzdem noch an? Auch wir kennen den schlechten Trost, in kritischen Situationen gesagt zu bekommen, es sei besser, wir wüssten nicht, was wirklich los ist. Und ist Ihnen die Wendung, „Wenn es aber doch am Ende was sein sollte…“ aufgefallen? Wahrscheinlich nicht, obwohl er eigentlich nicht passt. Und doch weist sie auf Effis von roten und goldenen Herbstblättern umrandeten Grabstein voraus. Darauf trauernd liegt der schwarze Hund Rollo, der Effi zur Rettung gekommen war, als sie vom Spuk der Vergangenheit aus dem Schlaf gerissen wurde.

 

1 NFA XXIII/1, S. 429f. Auftragsarbeit für den Band Männer der Zeit.
2 HFA IV, Bd. 2, S. 382, vom 2. Juli 1871.
3 Theodor Fontane, Gedichte. 3 Bde. Hrsgg. Joachim Krueger und Anita Golz. Berlin, Aufbau 1989, I, 272-275.
4 Andreas Beck, „Die crème der littérature allemande, oder Der Große Fonta(i)ne* auf der Treppe von Sanssouci“, in: Fontane Blätter 93 (2012), S. 30-59.
5 Fontane, wie Anm. 1, S. 519.
6 HFA IV, Bd. 4, S. 455, an Menzel 15.6.1895
7 HFA IV, Bd. 4, S. 511, an Harden 13.12.1895
8 Heide Streiter-Buscher, Rez. Zu R.H. Menzel, Maler des Lichts, usw. Frankfurt a.M., Insel 1991. In: Fontane Blätter 62 (1996), S. 165.
9 Petra Wilhelmy-Dollinger, Die Berliner Salons, mit kulturhistorischen Spaziergängen. Berlin, deGruyter 2000, S, 178.
10 Ebenda, S. 133.
11 Ebenda. S, 216.
12 Fontane, Der Stechlin. AFA VIII, S. 253.
13 Peter-Klaus Schuster, Theodor Fontane: Effi Briest – ein Leben nach christlichen Bildern. Tübingen, Niemeyer 1978.
14 Ebenda, S. 44 und Abb. 18, von Adolphe Lafosse nach Louis Fr. Corréard.
15 Fontane, AFA Bd. 7, S. 31f.

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