Fontane-Kreis Leipzig: Theodor Fontane – Der englische Charakter, heute wie gestern

Text: Matthias Grüne
Fotos: Petra Hesse

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IMG_8550In Zeiten des Brexit ist man in Deutschland mit Klagen über den Charakter ,des‘ Engländers schnell bei der Hand. Man schimpft über sein merkantiles Profitdenken und kritisiert ihn für seinen Mangel an Idealismus. Vergleichbare antienglische Ressentiments haben freilich eine lange Tradition. Ein unrühmlicher Höhepunkt anglophoben Denkens in Deutschland war die massive Propagandakampagne gegen England während des Ersten Weltkriegs. Im Klima eines radikal übersteigerten Hasses wurde sogar der als anglophil geltende Fontane als ideologische Waffe gegen das abtrünnig gewordene, germanische Brudervolk‘ eingesetzt.

Wie es dazu kommen konnte, darüber informierte der Vortrag des Historikers Rudolf Muhs (London), der am 30. Juni in der Stadtbibliothek Leipzig zu hören war. Im Zentrum von Muhs Darstellung stand ein Buch mit dem Titel Der englische Charakter, heute wie gestern, das 1915 im Fischer-Verlag erschienen ist und Theodor Fontane als Autor führt. Tatsächlich handelt es sich dabei um eine Kompilation englischkritischer Passagen aus den Reisefeuilletons, die Fontane während seiner zweiten Englandreise geschrieben und 1854 unter dem Titel Ein Sommer in London veröffentlicht hatte.

Muhs erläuterte kenntnisreich und unterhaltsam, wie es zu dieser Veröffentlichung kam. Er zeichnete ein detailreiches Bild des weiteren geschichtlichen Kontextes und führte vor Augen, dass die Kultivierung des Hasses gegenüber dem Kriegsgegner letztlich der neuen, hochtechnisierten Art der Kriegsführung geschuldet war. Der Erste Weltkrieg griff tiefer ins Leben der Zivilbevölkerung ein als jeder Krieg zuvor und die ungeheuren Opfer, die er vom Einzelnen verlangte, mussten beständig rechtfertigt werden. Das unscheinbare Fontane-Bändchen war also Teil einer ,geistigen Mobilmachung‘, die das Ziel hatte, die Kriegsmaschinerie möglichst lange am Laufen zu halten.  

Ausführlich ging Muhs auch auf den engeren, verlagsgeschichtlichen Kontext der Schrift ein. Er beleuchtete, welche Zielsetzung der Fischer-Verlag mit der Reihe Sammlung von Schriften zur Zeitgeschichte verfolgte, in die das Fontane-Buch aufgenommen wurde. Zudem ging er auf die persönlichen Motive des Herausgebers Samuel Saenger ein, der sich wie viele andere jüdische Intellektuelle um eine überdeutliche Artikulation seines ,Deutschseins‘ bemühte.

Schließlich richtete der Referent den Blick zurück auf Fontane selbst und spürte der Frage nach, ob sich in dessen Werk tatsächlich anglophobe Einstellungen nachweisen lassen. Dabei konnte er überzeugend darlegen, dass die englandkritischen Passagen aus den Reisefeuilletons vor dem Hintergrund von Fontanes zweiter Englandreise gelesen werden müssen. Der junge Fontane kam damals in eine Welt, die ihm nicht zuletzt aufgrund sprachlicher Barrieren fremd und ungastlich erschien. Im Zuge seines dritten Englandaufenthalts von 1855-1859 erfuhr seine Haltung jedoch einen grundlegenden Wandel. Die zunehmende Vertrautheit mit dem modernen England stärkte die Bereitschaft, das ,Fremde‘ dieser Lebenswelt nicht mehr rundheraus abzulehnen, sondern in seiner ,Andersheit‘ zu akzeptieren. Diese Erkenntnis, mit der Muhs seinen äußerst lebendigen und informativen Vortrag schloss, verdient nicht nur in Zeiten des Brexit gehört zu werden.

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