Das Kneipp’sche Kaffeemädchen eine kleine Beobachtung zu einem großen Roman – und ein Brief aus Berlin dazu

Von Klaus-Peter Möller

Das 13. Kapitel des Stechlin beginnt mit einer Fahrt durch Berlin. Woldemar hatte versprochen, den Damen im Hause Barby „recht bald“ wieder seine Aufwartung zu machen. Mit der Straßenbahn erreicht er vom Hallischen Tor aus das Reichstagsufer, markiert, wie der Erzähler mit humorvollem Augenzwinkern en passant mitteilt, durch eine charakteristische Reklame-Malerei, die mit wenigen Strichen recht genau beschrieben ist: „Und so ging er denn […] auf die Hallische Brücke zu, wartete hier die Ringbahn ab und fuhr, am Potsdamer- und Brandenburgerthor vorüber, bis an jene sonderbare Reichstagsuferstelle, wo, von mächtiger Giebelwand herab, ein wohl zwanzig Fuß hohes, riesiges Kaffeemädchen mit einem ganz kleinen Häubchen auf dem Kopf freundlich auf die Welt der Vorübereilenden herniederblickt, um ihnen ein Paket Kneippschen Malzkaffee zu präsentieren. An dieser echt berlinisch-pittoresken Ecke stieg Woldemar ab, um die von hier aus nur noch kurze Strecke bis an das Kronprinzenufer zu Fuß zurückzulegen.“

Was hat es mit diesem Kaffeemädchen auf sich? Wieso integriert Fontane dieses auffällige Element in seine literarische Topographie, die der realen so genau entspricht, dass seine Leser verleitet werden zu vergessen, dass es sich um fiktionale, epische Landschaft handelt?1 Im Kommentar der Großen Brandenburger Ausgabe findet man nur einen Hinweis auf die Ähnlichkeit mit dem Schokoladenmädchen. Das ist kaum hilfreich. Dabei hatte sich der Herausgeber des Bandes redlich bemüht, dem Stück Berliner Alltagskultur auf die Spur zu kommen, das hier unübersehbar ins Bild ragt. Er hatte Fotoarchive angefragt, Bildbände studiert, historische Postkarten durchgemustert, den digitalen Orkus über das Netz abgefischt. Nirgends fand sich eine Abbildung des Kaffeemädchens. Gab es dieses Reklamebild überhaupt?

Durch einen glücklichen Zufall bin ich nun doch noch auf ein Foto gestoßen, das uns dem Kneipp’schen Kaffeemädchen wesentlich näher bringt als Liotards schöne Chocolatière. Beim Durchblättern eines zeitgenössischen Foto-Albums, das ein Altpapierehändler aus Tutzing mir geschickt hatte, sah ich plötzlich das Bild vor mir, nach dem ich so lange vergeblich gesucht hatte!2

Waisenbrücke, Foto um 1900

Der Blick öffnet sich von einem über das Straßenniveau erhabenen Standort auf die Waisenbrücke und den dahinter befindlichen Holzhafen mit den Lastkähnen. Das Gebäude am rechten Bildrand kehrt dem Betrachter eine hoch ragende Giebelwand zu, die ein riesiges Reklamebild trägt, das dem von Fontane beschriebenen genau entspricht. Eine forsche junge Frau hält den Passanten ein Paket entgegen, das aus einem gut gefüllt Korb stammt, den sie über den linken Arm gehängt hat. Auf dem Kopf trägt sie, auch auf der stark gerasterten Fotoreproduktion deutlich genug erkennbar, eine kleine weiße Haube. Worum es sich bei dem angebotenen Produkt handelt, erklärt der Schriftzug einfach und adhortativ: „Trinkt Kathreiner’s Malzkaffee.“

Ausschnittvergrößerung

Einmal auf den Standort aufmerksam geworden, fanden sich weitere Bilder, auf denen die große Malzkaffee-Reklame an der Waisenbrücke dokumentiert ist. Das Internet-Lexikon Wikipedia bietet derzeit zwei auf 1904 datierte Fotos der Waisenbrücke von Waldemar Titzenthaler (1869-1937), auf denen das Kaffeemädchen mit der kleinen Haube zu erkennen ist. Wir könnten das Problem damit als gelöst betrachten, wenn nicht noch einige Details zu bedenken wären – die Zeit, den Ort, das Produkt und schließlich die Figur mit der Haube selbst betreffend.

Das Foto, wenn es auch nach Fontanes letztem großem erzählerischen Werk entstanden sein mag, der Bildband wurde 1904 gedruckt, gestattet einen Blick ins Berlin der Jahrhundertwende und vermittelt ein Bild, wie es für die Entstehungszeit des Romans charakteristisch war. Werbemotive, besonders erfolgreiche Muster, haben eine gewisse Beständigkeit, mitunter überdauern sie sogar das Produkt, für das sie geschaffen wurden. Und für eine so großflächige Reklamemalerei muss ohnehin eine längere Laufzeit veranschlagt werden. Fontane könnte mithin genau dieses Werbebild vor Augen gehabt haben, als er seinen Stechlin schrieb. Dass er den Ort kannte, steht außer Zweifel. Er hat, wie er selbst mehrfach beteuerte, nur gefunden, nicht erfunden. Auch in seinem Roman Der Stechlin spielt die Gegend um die Waisenbrücke eine Rolle. In unmittelbarer Nähe lag die Jannowitzbrücke, wo sich die Dampfschifffahrtstation befand und die Partie zum Eierhäuschen begann. Von der Anlegestelle und vom Dampfer aus konnte man das Kaffeemädchen sehen. Einer der beiden herrschaftlichen Kutscher nahm seinen Rückweg auf die Neue Friedrichstraße zu, heißt es. Er fuhr direkt an dem Reklamebild vorbei.

Die Waisenbrücke verband die Wallstraße mit der Neuen Friedrichstraße (heute Littenstraße). Sie wurde 1945 gesprengt, nach dem Kriegsende behelfsmäßig repariert und 1960 endgültig abgetragen. Woldemar stieg jedoch am Reichstagsufer aus. Natürlich könnte es dort ein zweites, vergleichbares Reklamebild gegeben haben. Aber sah es dort „pittoresk“ aus? 1894 war, nach 10jähriger Bauzeit, das Reichstagsgebäude eingeweiht worden. Der ganze Bezirk am Berliner Spreebogen, seit je Botschaftsviertel mit Bewohnern, die der höheren Beamtenschaft angehörten, machte eher einen vornehmen Eindruck. Aber das Vornehme und das Pittoreske liegen in Berlin ja mitunter eng beieinander. Klarheit könnte letztlich nur ein Foto bringen, das die Existenz eines Reichstagsufermalzkaffemädchens belegt.

Ganz unabhängig davon, ob wirklich am Reichstagsufer ein weiteres Werbeplakat nachgewiesen werden kann, ob Fontane das Kaffeemädchen am Ort vorgefunden oder nur in seiner literarischen Fiktion hierher versetzt hat, müssen wir als Leser uns fragen, wieso der Erzähler dieses Bild genau an dieser Stelle in seinen Roman wie ein Schibboleth hingestellt hat, unübersehbar groß, und doch wie eine Nebensache. Seilers Position, Woldemar werde durch das Plakat „auf weibliche Freundlichkeit gestimmt“,3 lässt manche Frage unbeantwortet. Wenn ein junger Angehöriger einer der ältesten märkischen Adelsfamilien, die schon vor den Hohenzollern da waren, wie es heißt, der einzige Erbe des Namens, des Geschlechts, der Tradition, des, wenn auch etwas heruntergekommenen, Gutes, wenn so einer durch die Hauptstadt des neuen Reiches fährt, um zwei junge Damen aufzusuchen, von denen eine wenige Kapitel später seine Ehefrau werden wird, und wenn er auf diesem Weg einem solchen Anruf begegnet, noch dazu in unmittelbarer Nähe zum Reichstag, geht es um ernstere Dinge, wiewohl ich nicht behaupten möchte, dass Freundlichkeit eine Nebensache ist.

zeitgenössische Verpackung

Der charakteristische Marken-Bestandteil „Kneipp“ fehlt auf dem Reklame-Bild an der Waisenbrücke. Für Fontane und seine Zeitgenossen war der Zusammenhang dennoch genauso evident, wie sich heute mit dem Konterfei und dem kurvenreichen Körper des italienischen Fotomodells Vanessa Hessler das Angebot eines Mobilfunkanbieters verbindet, der mit dieser verführerischen Marke auf unübersehbare Weise für seine Dienste wirbt.4 Kathreiner’s Kneipp Malzkaffee war bereits Ende des 19. Jahrhunderts ein bekanntes Markenprodukt, wenn auch die Werbefigur, die durch Bekleidung und Habitus eindeutig als Dienstmädchen (Köchin) gekennzeichnet ist, ganz andere Sinne anspricht als das märchenhafte Mobiltelefonmädchen unserer Tage. Die feste Assoziation des Markennamens Kneipp mit dem Produkt Malzkaffee und dem Produzenten Kathreiner ist für die Firmengeschichte charakteristisch, und das Kaffeemädchen vereinigte diese Elemente auf sinnbildliche Weise. Nachdem seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verschiedene als gesunde und preisgünstige Alternativen offerierte Kaffee-Ersatz-Getränke die Konkurrenz zur traditionsreichen Bohne angetreten hatten, etablierte die 1829 von Franz Kathreiner gegründete Münchner Firma, die sich im Lauf des 19. Jahrhunderts zum größten in Deutschland existierenden Lebensmittel- und Kolonialwarenkonsortium entwickelt hatte, zu Beginn der 1890er Jahre ein eigenes Tochterunternehmen zur Produktion von Malzkaffee, zu dessen bekanntesten  Produkten Kathreiner’s Kneipp Malzkaffe und der noch heute produzierte Caro-Landkaffee gehörten. Für ersteren erlangte das Unternehmen 1896 die Lizenz, mit dem Namen von Sebastian Kneipp werben zu dürfen. Auf jedem Paket prangte das Porträt des berühmten Wörishofener Pfarrers, darunter sein Namenszug und der Hinweis: „Sebastian Kneipp, der Künder der Lehre vom gesunden Leben, gab am 2. Juni 1896 in Wörishofen diesem bekömmlichen Malzkaffee sein Bild und seine Unterschrift, weil er ihn als den besten erkannt hatte.“ Allerdings warb die Firma schon vor diesem Zeitpunkt mit der  Schutzmarke Kneipp5 und konnte sich dabei auf die gerade erst erschienene Schrift „So sollt ihr leben!“ des berühmten Wörishofener Pfarrers berufen, der den Bohnenkaffee als hochgiftiges und extrem schädliches Nerven-Reizmittel und Menschenmörder diskreditierte und statt dessen als gesunde Alternative den Konsum von Malzkaffee empfahl. Für eine frühere Datierung der Giebelwandreklame spricht der 1894-1895 in der Zeitschrift Ueber Land und Meer einsetzende massive Werbeauftritt.6 In jedem zweiten Heft sind große, künstlerisch gestaltetet Annoncen abgedruckt, darunter in Nr. 5, S. 111 das hier wiedergegebene Motiv. Besonders auffällig ist die ständige Variation der graphischen Gestaltung dieser Inserate, in denen als wiedererkennbares Element meist nur die Köchin auftaucht. Sehr charakteristisch sind allerdings auch die stets auf andere Weise exponierten püppchenhaften Kindergestalten. Keine Anzeige wurde öfter als zweimal abgedruckt. Das der Berliner Giebelwandreklame entsprechende Motiv war überhaupt nur ein einziges Mal zu finden. Die Schlüsselbegriffe sind im Heft 23 (Beilage Aus Zeit und Leben) kurz und treffend formuliert: „Gesundheit – Genuss – Ersparnis“, auch der Zusatz „Aerztlich empfohlen“ fehlt nicht. Der Hinweis auf die Schutzmarke „Kneipp“ fehlt in mehreren Annoncen. In diese Werbekampagne reiht sich auch der reich illustrierte Aufsatz über Kathreiners Malzkaffee-Fabriken im Heft 41 ein (S. 782-784). Später endet die Produktwerbung in der illustrierten Familienzeitschrift Ueber Land und Meer abrupt. Die Berliner Giebelwandreklame könnte etwa zeitgleich mit dieser auffälligen Werbekampagne entstanden sein. Dass sie bei der Vielzahl der künstlerisch gestalteten Motive mehrfach in Berlin wiederholt wurde, ist unwahrscheinlich. Allerdings eignete sich die Köchin in der Pose der Viktoria besonders für großflächige Wand-Reklame.

Werbeannonce

Der Werbeauftritt der neuen Marke, die einen entscheidenden  Anteil am Erfolg des Produktes hatte, fiel also in die unmittelbare Entstehungszeit des Stechlin: Im Dezember 1895 erwähnte Fontane sein neues Roman-Projekt erstmals, 1896 schrieb er das Werk nieder, von Oktober 1897 bis Februar 1898 wurde es in der illustrierten Familien-Zeitschrift Ueber Land und Meer erstmals abgedruckt. In dem Jahrgang findet sich übrigens keine einzige Annonce mehr für Kathreiner’s Kneipp-Malzkaffe. Das neue Kaffee-Produkt war bereits auf vielfache Weise mit modernsten Werbemethoden ins öffentliche  Bewusstsein gebracht. Davon zeugen noch heute diverse Werbe-Mittel unterschiedlichster Art, die inzwischen begehrte Objekte auf dem Sammler-Markt geworden sind. Für Fontane und seine Zeitgenossen verband sich die Werbemarke mit dem Namen von Sebastian Kneipp, ob es dastand oder nicht. So funktioniert Werbung, und so reagiert ein literarischer Seismograph wie Fontane.

Als ausgebildeter und in preußischen Landen approbierter Apotheker kannte Fontane die verschiedenen Substanzen, aus denen trinkbare Sude gebraut werden konnten, sowie deren Wirkung genau. Kaffee gehörte für ihn, seine Familie und seinen Freundeskreis zum Alltag und war selbstverständlicher  Bestandteil der Genusskultur jener Zeit. Über seine Kaffeehaus-Besuche und die verschiedenen Klubs, in denen das anregende Getränk eine Rolle spielte, ließe sich eine Menge schreiben. Mit Verachtung äußerte er sich über „schlechten Fraß und Sirupskaffee“. Und Kneipp-Kuren waren seiner Meinung nach nichts anderes als „fröhliches Wasserpantschen“. Erst 1889, in seinem 70. Lebensjahr, nahm Fontane Abschied „von dem unsinnig starken Kaffee“, was ihm, wie er konstatierte, gut bekam. Seiner Ehefrau gab er am 2. August 1856 den Rat: „Iß Fleisch und trinke Kaffee, so wird mit Gottes Hülfe alles gut gehn.“ Die Kneipp-Touren, die auch zu seinen jungen Mannesjahren gehörten, waren anderer Art als die Wörishofener und galten keineswegs der Wasseranwendung äußerlich und innerlich. Dass Fontane Schleichwerbung betreiben oder sich zum Fürsprecher der Gesundheitsbewegung machen wollte, ist daher wenig wahrscheinlich. Er wird das neue Getränk eher mit Schmunzeln registriert haben. Kein richtiger Kaffee, noch dazu Kneipp-Produkt, also mit viel Wasser zubereitet, gleichsam homöopathisch verdünnt. Fontane kannte gewiss niemanden, der so etwas aus freien Stücken zu sich nahm. „Vorsicht, doppelt verfälscht!“, so könnte man die von ihm literarisch verewigte Giebelwandreklame deuten.

Es ließe sich die Frage ableiten, weshalb dieses Werbebild in Fontanes Roman am Reichstagsufer erscheint und nicht etwa in der Nähe des Residenzschlosses? Verhalten sich für den Erzähler das „Haus mit den vier Ecktürmen“ und das Schloss zueinander wie Malz- und Bohnenkaffee? Wurden auf diese Weise augenzwinkernd die Machtverhältnisse in Preußen kommentiert? Immerhin ist der zentrale Teil des Romans einer Reichstagsersatzwahl gewidmet.

Zweifellos steht die Werbetafel auf subtile Weise mit der zentralen Motivkette im Zusammenhang, die sich an den sagenumwobenen Stechlin-See knüpft. Auch Woldemar ist ein Stechlin, wie sein Vater einer war, auch er repräsentiert auf seine Weise den Zusammenhang von Welt und Winkel. Und Woldemar geht, wie die meisten Leser, an der schreienden Werbung für das Surrogat achtlos vorüber. Im Hause Barby wird Tee gereicht, im 13. Kapitel und überhaupt, während Dubslav von Stechlin diese Neuheit zwar „einführt“, für sich aber weiterhin auf Kaffee schwört, „schwarz wie der Teufel, süß wie die Sünde, heiß wie die Hölle“. In einem später gestrichenen Entwurf für den Romanschluss plante Fontane sogar, vom Brodeln der Teemaschine den Bogen über den Vulkanausbruch des Vesuv hin zum Leitmotiv seines Romans zu schlagen, dem Stechlin-See, der den universellen Zusammenhang der Dinge zugleich realisiert und symbolisiert.

Noch interessanter wird das Werbeplakat, wenn man die Verbindung zum weltanschaulich-philosophischen Diskurs des Romans herstellt. Während Fontane am Abschluss seines letzten großen Manuskripts arbeitete, starb der umstrittene Wunderheiler von Wörishofen, ein Ereignis, das in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wurde. Wie viel Stoff der Erzähler dem Alltagsgeschehen entnahm, der täglichen Zeitungslektüre, hat Rolf Zuberbühler in seinem jüngst erschienenen Buch über Fontanes Stechlin nachgewiesen. In einem zentralen weltanschaulichen Gespräch erklärt Pastor Lorenzen, Woldemars geistlicher Mentor, mit diplomatischem Geschick seinen Vorbehalt gegenüber dem Hofprediger Adolf Stoecker, indem er anhand des Wirkens von Sebastian Kneipp sein Leitbild formuliert:

„‚Da ist dieser Wörishofener Pfarrer – er sucht nicht die Menschen, die Menschen suchen ihn. Und wenn sie kommen, so heilt er sie, heilt sie mit dem Einfachsten und Natürlichsten. Übertragen Sie das vom Äußern aufs Innere, so haben Sie mein Ideal. Einen Brunnen graben just an der Stelle, wo man gerade steht. Innere Mission in nächster Nähe, sei’s mit dem Alten, sei’s mit etwas Neuem.‘ – ‚Also mit dem Neuen‘, sagte Woldemar und reichte seinem alten Lehrer die Hand. – Aber dieser antwortete: ‚Nicht so ganz unbedingt mit dem Neuen. Lieber mit dem Alten, soweit es irgend geht, und mit dem Neuen nur, soweit es muß.‘“ Das Wasser wird hier zum Symbol des Lebens und des Heils im körperlichen wie im geistlichen Sinn, theologisch noch überhöht durch den Missionsbefehl und das christliche Sakrament der Taufe. Das Motiv des Stechlin-Sees gewinnt so zu seiner philosophisch-weltanschaulichen Dimension eine umfassende eschatologische Bedeutung, denn der See, den es wirklich gibt, ist ein ganz außergewöhnliches Reservoir reinsten, klarsten Wassers.

Dass der leicht zu entfesselnden Gewalt dieses Elements auch mit einer gewissen Vorsicht zu begegnen ist, deutet der Erzähler an mehreren Stellen an, etwa durch Melusines Erschrecken vor dem „Eingreifen ins Elementare“ (28. Kapitel) oder durch Dubslavs Erkrankung an Hydropsie (Wassersucht): „Das verdammte Wasser drückt gleich nach oben, und dann haben Sie Atemnot.“ Die alte Kräuterhexe Buschen versucht, diese Krankheit auf homöopathische Weise zu steuern: „Dat Woater nimmt dat Woater weg.“ (38. Kap.) Und der Mühlenbesitzer Gundermann orakelt bei jeder Gelegenheit mit seiner Lieblingsredensart: „Das alles ist nur Wasser auf die Mühlen der Sozialdemokratie“.

Schokoladenmädchen, Kaffeemädchen, Telefonmädchen. Der ikonographische Beziehungsreichtum  dieser Figuren, die ja auch nur stellvertretend für weibliche Werbemarken stehen, lässt sich nicht in so einem kleinen Essay erschöpfen. Erotik, Mode, symbolische Bedeutung, Gestik, Typus, selbst die Größe der Haube ist wichtig. Fontane wird das Malzkaffeemädchen, das ganz anders auftritt als das sinnige, bescheidene Schokoladenmädchen, sicher gefallen haben. Es präsentiert sich dem Betrachter in Frontal-Sicht, zupackend, tüchtig, kerngesund, mit gestärkter Schürze und hochgerutschtem Puffärmel und versprüht den Charme einer unglaublichen Gewaschenheit. Und was hätte er oder Dubslavs Schwester Adelheid zu Alices melusinenhaften Wunderland-Fernversprechen und universellen Verbindungsmöglichkeiten gesagt? Auch der Spielraum der Hauben ist groß, wenn man bedenkt, was zwischen Spreewaldamme und Malzkaffeemädchen alles in einer Geschichte dieses wichtigen Modeartikels berücksichtigt werden müsste. In einem Brief an Adolph Menzel schrieb Fontane am 3. Mai 1890: „Kaffee mit Schlagsahne, eine für mich immer gefährliche Zusammenstellung.“ War ihm das kleine Häubchen des Kaffeemädchens deshalb so sympathisch? Wenn schon ein Sahnehäubchen, dann ein ganz kleines!

Anm.:
1 Die Rezeptionsgeschichte der Romane und Erzählungen Fontanes verzeichnet mehrere Beispiele für dieses Missverständnis, auch das Schloss Stechlin hat schon mancher vergeblich am Ufer des Stechlin-Sees gesucht. Es hat niemals dort gestanden. Ein Atomkraftwerk hat es dort gegeben, aber das war später, und es ist glücklicherweise bereits stillgelegt. Und der 1884 gegründete Touristenclub für die Mark Brandenburg soll bereits zu Lebzeiten Fontanes eine Exkursion zur Erkundung des Schlosses in Wuthenow unternommen haben, das nie existierte und das von ihm „bis auf den letzten Strohhalm“ erfunden worden war.
2 Album von Berlin Charlottenburg und Potsdam. 5 grosse Panoramen und 124 Ansichten nach Momentaufnahmen in Photographiedruck. Berlin: Globus Verlag 1904.
3 Bernd W. Seiler: Fontanes Berlin. Die Hauptstadt in seinen Romanen. Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg 2010, S. 169. Seiler hat in seinem Buch erstmals auf den Zusammenhang hingewiesen und eine Abbildung des „Kaffeemädchens“ publiziert, die der Vorlage für die Werbeannonce und die Giebelwandreklame entspricht.
4 Wenn ich den wirklichen Namen des Marken-Mädchens hier angebe,
wird mich niemand der Schleichwerbung bezichtigen können, denn er ist viel weniger
bekannt als das Produkt, das es mit seinem Werbe-Auftritt bekannt gemacht hat.
5 Vgl. „Meine Lebenswerke.“ Hrsg. zum Gedächtnis an den 100. Geburtstag von Hermann Aust am 16. Juni 1953. Prof. Dr. Seiler verdanke ich den Hinweis, dass Kathreiner erstmals 1891 seinen Malzkaffee im Warenzeichenblatt mit der Werbemarke Kneipp eintragen ließ, 1893 und 1894 erneut, jeweils mit kleinen Namensänderungen.
6 1. Halbband des 37 Jahrgangs, 1894-1895.

Der hier abgedruckte Beitrag ist eine Kurzfassung des Aufsatzes, der im Mitteilungsblatt der Landesgeschichtliche Vereinigung für die Mark Brandenburg e. V., erschienen ist (113. Jg., 2012, Heft 12, S. 9-17). Ernst-Christian Gädtke, dem ich ein Exemplar zuschickte, schrieb mir daraufhin einen ganz privaten Brief aus Berlin, den ich hier mit seiner Erlaubnis wiedergebe:

Lieber Herr Möller!

Berlin, den 9. November 2012

Ganz herzlichen Dank für den Text über das Kaffeemädchen; ich habe ihn mit Belustigung gelesen. Schließlich gehört ‚Kathreiners Malzkaffee’zu den Erinnerungen meiner Berliner Kindheit. Das war ja der mit den ‚spitzen Bohnen’. Ich durfte nämlich, wann immer es ging, die Kaffeemühle zwischen die Kniee geklemmt, die Bohnen mahlen. Mutter gab präzise Anweisungen: „Ein halbes Lot runde Bohnen, ein Lot spitze Bohnen! Das ‚Lot’ war ein kleiner Meßbecher aus Messing, und ob ‚das Lot’ nun ein Gewichtsmaß war oder ein Hohlmaß, das wußte ich nicht und es interessierte mich auch ‚nicht die Bohne’. Aber das weiß ich bis heute: Kaffee nur aus ‚runden Bohnen’ kam nicht mal an hohen und höchsten Feiertagen in die Mühle – ‚halb und halb’, das war das äußerste.

Erst während des Krieges wurde zu Hause ‚echter’ Kaffee getrunken, immer dann nämlich, wenn es eine Sonderzuteilung Bohnenkaffee gegeben hatte. Die Berliner sprachen von ‚Zitterprämie’. Aber an die Kathreinerpackungen – weiß mit blauem Aufdruck – erinnere ich mich genau.

Es ist sehr gut möglich, daß Fontane das Reklamebild an der Giebelwand jenseits der Waisenbrücke gesehen und als Motiv in seinen ‚Stechlin’ verpflanzt hat. Denn richtig ist wohl auch, daß es vergleichbare Reklameflächen rund um das Reichstagsufer nicht gegeben haben dürfte. Es gehört ja zur Methode Fontanes, bestimmte Motive, Gebäude, Szenarien wie Versatzstücke zu verwenden. Sicher hat Fontane ‚Schloß Stechlin’ ebenso wie ‚Schloß Wuthenow’ irgendwo gesehen, es gibt oder gab sie  tatsächlich. Er hat die Orte ‚gefunden’ – nicht ‚erfunden’, und sie ganz oder in Teilen an die Handlungsorte seiner Erzählungen versetzt.

Mit den ‚Briefen aus Berlin’ ist es allerdings aus, so verlockend auch ein Thema ‚Waisenbrücke’ wäre. Ich muß die Sache aus mancherlei Gründen aufgeben, die ausschließlich bei mir liegen, – wie manch andere Dinge auch.

Kein Grund zur Freude aber auch kein Grund zur Traurigkeit – der Lauf der Dinge.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr Ernst-Christian Gädtke

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