„Brief aus Berlin“ (24): Spaziergang von der Potsdamer 134c zu den Friedhöfen am Halleschen Tor

Die „Briefe aus Berlin“ erscheinen in den „Mitteilungen“ der Fontane Gesellschaft und werden auf der Website ebenfalls zugänglich gemacht.

Sehr geehrte Leser, liebe Fontane-Freunde und Berlin-Liebhaber, gestatten Sie uns diesen kleinen Vorspann: Nachdem sich unser
langjähriger „Berlin-Korrespondent“ Ernst-Christian Gädtke aus dieser, seiner Briefschreiberfunktion leider aus Altersgründen mit dem Brief aus Berlin (23) im letzten Heft verabschiedet hat, können wir Ihnen zu unserer großen Freude heute mit unserem Mitglied Georg Bartsch aus Berlin auch einen Stadtkenner und damit würdigen Nachfolger Ernst-Christian Gädtkes vorstellen und nunmehr seine künftigen „Briefe aus Berlin“ Ihrer freundlichen Aufmerksamkeit empfehlen.

Spaziergang von der Potsdamer 134c zu den Friedhöfen am Halleschen Tor

Text und Foto: Georg Bartsch

„Wir leben sehr still, Mama rückt überhaupt nicht von der Stelle,
ich gehe jeden Abend um 9 bis an die Christuskirche (Paulus Cassel)
umschlendere schließlich 2 mal den Leipziger Platz, schnopre etwas
Lindenluft, gucke mir die Jüdinnen an, die unterm Zelt in Hotel Bellevue soupieren
und bin um 10 wieder zuhause.“ So Fontane in einem Brief an Tochter
Martha vom 25. Juli 1891. Da schrieb er an seinem Roman Effi Briest. Heute erinnert eine Gedenktafel an den Ort, an dem Fontane seit 1872 wohnte,
die Potsdamer Straße 134c. Nichts sonst in der Umgebung erinnert an jene Zeit, nicht
die Häuser und auch keine Jüdinnen. Halt! Wir schauen hinüber zur Matthäuskirche,
vorbei an einer 160 Jahre alten Platane. Fontane hat beide, Kirche und Baum, auf
seinen Spaziergängen in den Tiergarten gesehen.

Laufen wir in die andere Richtung, vorbei an dem etwas versteckt
liegenden Fontaneplatz, passieren wir einen Grünstreifen. Hier endete die Potsdamer
Eisenbahnlinie, deren Verlauf wir erahnen können.

Wir gehen die Stresemannstraße hinunter, die früher Königgrätzer
Straße hieß, vorbei am Ruinen-Portikus des Anhalter Bahnhofs und denken an Effi
Briest, die hier irgendwo billig „trockenwohnte“, wie es mittellose Berliner
taten in Neubauten, bis diese trocken waren. Die feuchte Wohnung war ihrer
angeschlagenen Gesundheit nicht zuträglich. In Von Zwanzig bis Dreißig schreibt
Fontane, wie ihm Tante Pinchen in Leipzig anbietet „mein wie eine Typhusbrutstätte wirkendes
Zimmer in der Hainstraße zu verlassen und in ihre Wohnung in der Poststraße zu
übersiedeln, wo trockene, helle Räume waren.“

Später dann in Berlin in der Großen Hamburger Str. wohnte er bei
seinem „Onkel August, der … immer so wundervolle Berliner Geschichten
erzählte. Mitunter sogar unanständige.“ In dem Neubau hatten „lauter gescheiterte Leute“
eine billige Unterkunft gefunden. Das vom jungen Theodor bewohnte Zimmer war
so feucht, „dass das Wasser in langen Rinnen die Wände hinunterlief“. So
beschreibt Fontane seine Erfahrungen als „Trockenwohner“ und wir können uns
vorstellen, welch gesellschaftlicher Abstieg das Trockenwohnen für Effi Briest bedeutete.

„Ach, Roswitha, der Geheimrat hat leicht verbieten, und du hast
es auch leicht, all das nachzusprechen. Aber was soll ich denn machen? Ich kann doch
nicht den ganzen Tag am Fenster sitzen und nach der Christuskirche hin übersehen.
Sonntags, beim Abendgottesdienst, wenn die Fenster beleuchtet sind, sehe ich ja
immer hinüber; aber es hilft mir auch nichts, mir wird dann immer noch schwerer ums
Herz.“

„Ja, gnädige Frau, dann sollten Sie mal hineingehen. Einmal waren
Sie ja schon drüben.“

„O schon öfters. Aber ich habe nicht viel davon gehabt. Er
predigt ganz gut und ist ein sehr kluger Mann, und ich wäre froh, wenn ich das Hundertste
davon wüßte. Aber es ist doch alles bloß, wie wenn ich ein Buch lese; und wenn er
dann so laut spricht und herumficht und seine schwarzen Locken schüttelt, dann bin
ich aus meiner Andacht heraus.“

„Heraus?“

Effi lachte. „Du meinst, ich war noch gar nicht drin. Und es
wird wohl so sein. Aber an wem liegt das? Das liegt doch nicht an mir. Er spricht immer
soviel vom Alten Testament. Und wenn es auch ganz gut ist, es erbaut mich nicht.“

So heißt es im 32. Kapitel des Romans.

Die schwarzen Locken und das Alte Testament beschreiben uns einen Prediger, der vom Judentum zum Christentum konvertiert ist. Heute liest man leicht darüber hinweg.

Von der Christuskirche ist nichts mehr zu sehen. Wir aber geben die Spurensuche nicht auf, laufen über das Hallesche Tor hinaus zu den Friedhöfen, wandern vorbei an den Gräbern der Mendelssohn-Bartholdys bis hin zum Jerusalem I Kirchhof und entdecken dort einen beschädigten Grabstein mit der Inschrift: „Dem wahren Jünger Christi, den begeisterten und begeisternden Apostel unserer Zeit. Sein Leib ist tot, sein Werk und sein Name sind unvergänglich.“

Das ist das Grab von Paulus Cassel, dem konvertierten Juden. So hat ihn Fontane in Effi Briest gezeichnet,
so unterstreicht es der Grabstein. Unvergänglich gemacht hat ihn Theodor Fontane, dessen Roman wir nach der Entdeckung dieser Zeitzeugnisses gerne wieder
mal aufschlagen.

Abc

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