Nachdem das Frühjahrstreffen der Sektion Großbritannien und Irland viele Jahre mustergültig in London von Dr. Patricia Howe und Prof. Helen Chambers betreut wurde, wurde der Stab dieses Jahr an St Andrews weitergereicht. Sektionsleiter Dr. Michael White eröffnete das Treffen, indem er Generalkonsulin Christiane Hullmann dazu einlud, ein Grußwort an die angereisten Mitglieder der Theodor Fontane Gesellschaft zu richten. Frau Hullmann schilderte die deutsch-schottischen Beziehungen und die gegenwärtige Situation auf anschauliche Weise. Handelsbeziehungen zwischen Schottland und der Hanse sind schon für das späte 13. Jahrhundert belegt, wie aus einem Brief William Wallaces an die Stadt Lübeck hervorgeht, in dem der schottische Herrscher für die Sicherheit der Handelsleute bürgte. Wichtig für die aktuellen Beziehungen Deutschlands zu Schottland und Nordengland seien Städtepartnerschaften, die schon vor dem Beitritt Großbritanniens zum europäischen Wirtschaftsraum 1973 bestanden haben.

Dr. Klaus-Peter Möller vom Fontane-Archiv Potsdam bot uns Einblicke in sein gegenwärtiges Projekt zu Fontane und dem »Giganten der Publizistik« Maximilian Harden, dessen Zeitschrift Die Zukunft 1910/11 eine Auflage von 23.000 Exemplaren erreichte. Bei einem Besuch bei Fontane 1889 wurde Harden von dem siebzehnjährigen Theodor Lessing begleitet. Fontanes Versuch, dem jungen Lessing eindringlich vom Schriftstellerlaufbahn abzuraten, blieb ohne Erfolg — Lessing wurde seinerzeit zu einem der bekanntesten Journalisten der Weimarer Republik. Harden erbat sich einen Beitrag von Fontane und läutete damit eine Korrespondenz zwischen beiden Männern ein. Dennoch war Fontane kein eifriger Leser von Hardens Zeitschrift, die er mit nur wenig Beiträgen belieferte. Später kam es zu einem Bruch wegen Fontanes Einstellung zu Bismarck. Hardens Zukunft brachte 1896 trotzdem einen anerkennenden Nachruf auf Fontane.
Herr Peter Siemsen (Koblenz) referierte über Innstettens Angst vor dem Chinesen und forderte uns dazu auf, im rätselhaften Diener des Kapitäns Thomsen in Effi Briest weniger das Instrument von Innstettens schwarzer Pädagogik zu sehen als eine Projektionsfigur, in der sich Innstettens eigene Ängste bündeln. Innstetten habe, so Siemsen, die Geschichte des Chinesen und dessen gescheitertes Liebesverhältnis zu Thomsens Enkelin mit dem aufgefüllt, was ihn umtreibe: nämlich mit dem Inhalt seiner eigenen gescheiterten Werbung um Luise von Briest. Der Chinese ist als Werther-Figur kodiert, und die Parallele zwischen dem Dreieck Werther-Lotte-Albert und der Konstellation Innstetten-Effi-Crampas arbeitete Herr Siemsen mit Geschick heraus. Der Spuk des Chinesen funktioniert als Menetekel, mit dessen Hilfe Innstetten sich vor einer Wiederholung des früheren Traumas sichern will, allerdings ohne Erfolg, denn die Konstellation wiederholt sich und der Spuk wird zur Lebenswirklichkeit.

Effi Briest stand auch im Mittelpunkt von Prof. Ulrich Kinzels (Kiel) Referat zum Unheimlichen im Realismus, ein faszinierender Gegenstand für Fontane- oder Storm- Leser:innen, die sich je Gedanken gemacht haben zur Hartnäckigkeit, mit der sich Spuk und Übernatürliches halten mitten im Materialismus und Mammonismus der Gründerzeit. Professor Kinzel fasst das Unheimliche als politische Erfindung auf, als Stimmung, die uns eingeflößt wird, um uns zu beherrschen. Heutzutage wird die Imagination von der Politik stärker und vielfältiger denn je in Regie genommen auch von den in den sozialen Medien millionenfach nacherzählten Verschwörungstheorien. Fontanes Interesse am Unheimlichen erklärt sich aus seiner Überzeugung, es liege eine Realität hinter der Realität, eine Auffassung der Wirklichkeit, die wir an der Ballade Die Brück‘ am Tay gut ablesen können. Unter Berufung auf Stephen Greenblatt erinnerte uns Professor Kinzel daran, dass Shakespeares Macbeth aus der protestantischen Auseinandersetzung mit dem Begriff des Fegefeuers entstand, aus der Kritik an einer Technik der Angst, die auf nichts weniger als die Gestaltung und Kolonisierung der Einbildungskraft abzielte. Statt wie Effi und ihre Mutter in ihren Gesprächen über die bevorstehende Ehe eine Trennlinie zwischen dem Realismus und dem Romantischen zu ziehen, scheint der Erzähler es eher mit Maria Trippelli zu halten, die der Wirksamkeit des Spuks im Alltag Anerkennung zollt
Nachdem wir das von der Universitätsküche schmackhaft zubereitete Mittagessen genossen hatten, setzte sich die Tagung fort mit Beiträgen von zwei Studentinnen im binationalen Master-Programm German & Comparative Literature der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und der University of St Andrews. Anna Imhof führte uns mit ihrer aufschlussreichen Lektüre von E. T. A. Hoffmanns Das öde Haus ins Kerngebiet des Unheimlichen – die literarische Romantik – und regte zum Nachdenken über öde Häuser bei Fontane an. Frau Imhofs Kommilitonin Katharina Kemper wählte die Novelle Draußen im Heidedorf von Fontanes großem Zeitgenossen Theodor Storm zum Gegenstand ihrer Besprechung, bei der die Referentin auf eindrucksvolle Weise den anthropologischen Gehalt von Storms Novellistik belegte im Hinblick auf das damals im populärwissenschaftlichen Diskurs verankerte biologistische Menschenbild, welches auch in den Zeitschriften, in denen Storm publizierte, propagiert wurde.

Während der Tagung wurde auf die verdienstvolle Studie von Karla Bindokat Effi Briest: Erzählstoff und Erzählinhalt (Frankfurt am Main, 1984) hingewiesen, und die anwesende Verfasserin erinnerte uns hinsichtlich des Werther-Zitates in der Figur des Chinesen daran, dass Fontane die Sublimierung der in Die Leiden des jungen Werthers verarbeiteten Motive und Stoffe bewundert und sich in der direkten Nachfolge Goethes gesehen habe. Die Diskussion wurde auf den sommerlich warmen Straßen von St Andrews fortgesetzt und verwandelte sich in eine Plauderei über Literarisches und Universitäres, Deutsches und Schottisches bei Fish-and-Chips und anderen Erfrischungen. Der Abendhimmel war in diesen nördlichen Breitengraden noch angenehm hell und die Straßen wimmelten von Touristen und Golfspielern, als wir voneinander Abschied nahmen mit dem herzlichen Wunsch nach einem baldigen Wiedersehen.