„Brief aus Berlin“ (37)

Melusine

Das »Fontane-200-Jahr« nähert sich dem Ende. Es gab viele interessante Veranstaltungen im zurückliegenden Jahr, die ich nicht alle auflisten möchte.
Als etwas ganz Besonderes darf die Uraufführung der Oper »OCEANE« von Detlev Glanert (Komposition) und Hans-Ulrich Treichel (Libretto) nach dem Fragment von Theodor Fontanes Oceane von Parceval an der Deutschen Oper Berlin gelten.
Die Oper wurde mit großem Beifall aufgenommen und erhielt überall von der FAZ über die lokalen Medien bis zur taz hervorragende Kritiken. Dabei ist es von Vorteil, dass es sich um ein Fragment handelt, also großen Spielraum für eigene Interpretation lässt. Während in den Romanen Fontanes Frauen gezeichnet werden, die Züge einer Undine haben, haben wir es bei diesem Fontane-Text mit einem radikaleren Entwurf zu tun.

»Es gibt Unglückliche, die statt des Gefühls nur eine Sehnsucht nach dem Gefühl haben und diese Sehnsucht macht sie reizend und tragisch. Die Elementargeister sind als solche uns unsympathisch, die Nixe bleibt uns gleichgültig, von dem Augenblick an aber wo die Durchschnitts-Nixe zur exzeptionellen Melusine wird, wo sie sich einreihen möchte ins Schön-Menschliche und doch nicht kann, von diesem Augenblick an rührt sie uns. […] Sie hat Liebe, aber keine Trauer, der Schmerz ist ihr fremd, alles, was geschieht wird ihr zum Bild und die Sehnsucht nach einer tiefen Herzens-Theilnahme mit den Schicksalen der Menschen wird ihr selbst zum Schicksal. Sie wirft ihr Leben weg, weil sie fühlt, daß ihr Leben nur ein Schein-Leben, aber kein wirkliches Leben ist.«

Im Gegensatz dazu sind die Melusinen in den Romanen Fontanes verzweifelte Frauen, die tief empfinden und fühlen und an den gesellschaftlichen Verhältnissen zerbrechen. Lassen Sie mich hier auf eine Stelle eingehen. Im Stechlin hören wir von Melusine im Gespräch mit der Baronin Berchtesgaden:

»›Ich verheiratete mich, wie Sie wissen, in Florenz und fuhr am selben Abend noch bis Venedig. Venedig ist in einem Punkt ganz wie Dresden: nämlich erste Station bei Vermählungen. Auch Ghiberti – ich sage immer noch lieber ›Ghiberti‹ als ›mein Mann‹; ›mein Mann‹ ist überhaupt ein furchtbares Wort – auch Ghiberti also hatte sich für Venedig entschieden. Und so hatten wir den großen Apennintunnel zu passieren.‹
›Weiß, weiß. Endlos.‹
›Ja, endlos. Ach liebe Baronin, wäre doch da wer mit uns gewesen, ein Sachse, ja selbst ein Rumäne. Wir waren aber allein. Und als ich aus dem Tunnel heraus war, wußt’ ich, welchem Elend ich entgegenlebte.‹
›Liebste Melusine, wie beklag’ ich sie; wirklich, teuerste Freundin, und ganz aufrichtig. Aber sogleich ein Tunnel. Es ist doch auch wie ein Schicksal.‹«

Im Programmheft der Oper geht Glanert auf die »Vergewaltigungsszene im Stechlin ein, die so dezent geschildert ist, wo aber eindeutig eine Vergewaltigung im Zug im Tunnel stattfindet. Das ist auch eine grausame Szene, in der ein unabhängiges Mädchen furchtbar leiden muss.« Schon Walter Jens gab diese Interpretation:

»Ein Gespräch, nochmals, ohne Beispiel; man plaudert über Reisegefährten, bemißt die Länge des Tunnels, spricht salopp daher – ›aber sogleich ein Tunnel‹ – als führe man ein englisches Wettergespräch (›cloudy today, yesterday better‹) – und dabei geht es um eine Vergewaltigung in der Hochzeitsnacht, um eine Defloration, begleitet von Schrecken, Schande und Entwürdigung, und um das rasche Ende einer Ehe, die niemals eine Ehe war.«

Ist es so? Ist hier die »Grausamkeit« zu spüren; reden diese Frauen »salopp daher« wie in einem »englische[n] Wettergespräch«, in dem es doch um die Vergewaltigung einer der beiden geht? Und hat Fontane einem Vergewaltiger einen Namen gegeben, der auf Lorenzo Ghiberti und dessen Paradiespforte anspielt? Nein, hier geschah keine Vergewaltigung. Hier geschah nichts. Und dieses Nichts meint wohl das Verhalten eines Mannes, der kein sexuelles Interesse an der frisch mit ihm vermählten Frau hat. Fontane macht nur eine vage Andeutung und lässt Raum für Interpretation. Vielleicht gibt uns eine Stelle im Roman einen Hinweis, in dem Hedwig im Gespräch mit Frau Imme über die Männer der Familien, in denen sie angestellt war, erklärt: »Ja, Frau Imme. Wenn einen einer gar nicht ansieht, das is einem auch nicht recht.« Wie selbstbewusst Melusine fühlt, zeigt ihre Antwort auf die Bemerkung: »Wer Melusine heißt, sollte wissen, was Namen bedeuten.« »Ich weiß es leider. Denn es gibt Leute, die sich vor ›Melusinen‹ fürchten.« In einem weiteren Gespräch mit der Baronin Berchtesgaden läßt uns Melusine wissen: »während meiner Verheiratungstage hab’ ich Gott sei Dank so gut wie garnichts gesehn, kaum einen Mann, aber freilich immer noch zu viel«.

 

Alexander von Humboldt

2019 jährt sich zum 250. Mal der Geburtstag von Alexander von Humboldt (14. September 1769–6. Mai 1859). Er gilt als letzter Universalgelehrter. Bekannt ist seine große fünfjährige Amerikareise. Noch heute und mehr als in Deutschland ist Humboldt in Südamerika präsent und geehrt, zum Beispiel durch nach ihm benannte Straßen. Auch der Humboldtstrom, eine Meeresströmung entlang der Westküste des Südamerikanischen Kontinents, trägt seinen Namen. Über die Reise hat Humboldt im Kosmos und in Ansichten zur Natur geschrieben.
Im April 1884 schreibt Fontane an Georg Friedländer:

»Varnhagen [Karl August Varnhagen von Ense] galt so sehr als ›erster Stilist‹, dass Humboldt ihm seinen Kosmos gab, um den Stil in Ordnung zu bringen. Ich bin nicht Humboldt, würde mich aber hüten, meinen Stil bei Varnhagen in die Feile zu geben. Es wirkt alles gedrechselt, schönrednerisch, altjungfernhaft.«

Die Vorlesungen Alexander von Humboldts an der Universität zu Berlin, der heutigen Humboldt-Universität (benannt nach den Brüdern Wilhelm und Alexander von Humboldt), waren stets überfüllt, so klug und zugleich unterhaltsam wusste er zu erzählen. Wenn man heute auf seinen Spuren reist, staunt man, wie er vor rund zweihundert Jahren solche enormen Herausforderungen meisterte, wie zum Beispiel im Juni 1802 bei seinem Versuch, den 6.300 Meter hohen Chimborazo in Equador zu besteigen. Wie hoch Humboldt aufgestiegen ist, weiß ich nicht. Ich selbst bin auf 5.000 Meter hinaufgefahren, um dann die letzten 100 Meter vom Parkplatz bis zu einer Berghütte über Geröll zu laufen. Die Luft war so dünn, dass ich für diese kurze Strecke eine Dreiviertelstunde brauchte und mich nur der Gedanke an Humboldt davon abhielt, die Hütte vor Augen abzubrechen und zum Auto zurück zu gehen.

Weniger bekannt ist Humboldts große Asienreise, die er mit 60 Jahren unternahm. Er war also fast doppelt so alt wie zu Beginn der Südamerikareise. In einem kleinen Museum am Issyk-Kul-See in Kirgisistan wird an die Asienreise Humboldts erinnert.

In einem Brief an Georg Friedländer im Dezember 1884 schreibt Fontane:

»Dove’s Essays über die Forsters und Humboldts sind lehrreich, lassen mich aber insoweit unbefriedigt, als sie nach dem in Deutschland üblichen Biographie- Rezept gearbeitet sind und sich das mir unerträgliche ›beautifying for ever‹ zur Aufgabe stellen. Wenn man sich entschließen könnte, die Geschichte der Humboldts ächt und wahr zu erzählen und beispielsweise bei den sexuellen Uncorrektheiten ich glaube Beider (des Einen gewiß) zu verweilen, so würde ihr Lebensbild 10 mal interessanter werden und zwar nicht vom gemeinen Klatschbasen- sondern vom physiologisch-psychologischen Standpunkt aus.«

Wir sollten bedenken, dass mehrjährige Reisen, bei denen es oft monatelang kein Lebenszeichen gab, wohl nicht von Familienvätern gemacht werden konnten, sondern eine gewisse Unabhängigkeit voraussetzen. Übrigens hat Humboldt seine fünfjährige Südamerikareise mit dem Geld aus seinem Erbe selbst finanziert. Humboldt setzte sich auch für den zweiten großen Reisenden des 19. Jahrhunderts ein, der weniger Anerkennung erhielt als er selbst: Heinrich Barth, der unter Strapazen durch das nördliche Afrika von Tripolis bis Timbuktu reiste. Barth starb im Alter von 44 Jahren. Er hat ein Ehrengrab auf dem Friedhof III der Jerusalemsund Neuen Kirchengemeinde in Berlin-Kreuzberg.

Alexander von Humboldt wurde wohl im Haus der Eltern in der Jägerstraße 22 in Berlin Mitte geboren. Eine Gedenktafel befindet sich an dem Haus, das heute dort steht. Humboldts letzte Wohnstätte war in der Oranienburger Straße 67, auch dort erinnert eine Gedenktafel an ihn. Der Spazierstock Alexander von Humboldts ist im Museum des Botanischen Garten zu Berlin ausgestellt.  Alexander von Humboldt ist der 32. Ehrenbürger Berlins. Sein Grab befindet sich im hinteren Teil des Gartens von Schloss Tegel. Man sah also schon zu Lebzeiten auf den Ort (Campo Santo), wo man einmal begraben sein würde. In den Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Band Havelland, schreibt Fontane über das Schloss Tegel und die Humboldts.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.