Fontane-Kreis Leipzig: Dr. Susanna Brogi über „Emotionen und Diagnosen – Emma, Effi und Franza als ‚Patientinnen‘ ihrer Zeit“

Text: Matthias Grüne
Foto: Monika Stoye

IMG_5585(Personen auf dem Foto: Matthias Grüne, Uta Beyer und Dr. Susanna Brogi)

Mag es an dem neuen, frisch renovierten Veranstaltungsort
oder an der Attraktivität des Themas gelegen haben: außergewöhnlich viele
Interessierte jedenfalls folgten am 13. Februar der Einladung des
Fontane-Kreises Leipzig in die Stadtbibliothek zum Vortrag „Emotionen und
Diagnosen – Emma, Effi und Franz als ,Patientinnen‘ ihrer Zeit“ von Frau Dr. Susanna Brogi. Und kaum einer der Anwesenden dürfte sein Kommen bereut haben, denn die
Referentin, aktuell wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für
Komparatistik an der Universität Erlangen-Nürnberg, verstand es, ihre
Betrachtungen zu den Frauengestalten Fontanes, Flauberts und Ingeborg Bachmanns
überzeugend zu verknüpfen und erfrischend kurzweilig zu präsentieren. Dabei
richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Verbindung medizinischer Diskurse und
Gesellschaftsanalyse und zeigte auf, wie sich aus den im Text inszenierten
Krankheitsbildern der weiblichen Hauptfiguren eine Diagnose sozialer Zwänge und
gesellschaftlicher Machtstrukturen herauslesen lässt.

In Flauberts „Madame Bovary“ werden vornehmlich die Symptome
der Hysterie vom Autor aufgegriffen und funktionalisiert. Die Diskussion dieser
psychischen Erkrankung, die man zu dieser Zeit für ein ausschließlich bei
Frauen auftretendes Nervenleiden hielt, war in der französischen Öffentlichkeit
vor allem durch die Forschungen an der Pariser Salpêtrière präsent. In präzisen
Textanalysen vermittelte die Referentin, wie die im zeitgenössischen
medizinischen Diskurs verhandelten Merkmale weiblicher Hysterie, der Hang zur
Depression, egozentrisches Verhalten, rasche Stimmungsschwankungen etc., in
Emmas Charakterbild auftauchen – bis hin zu ihrem Suizid durch Gift, der von
Flauberts mit deutlichen Parallelen zu einem hysterischen Anfall inszeniert
wird. Offensichtlich geht es dabei weniger um die Darstellung einer Figuren-Pathologie,
als um den Krankheitszustand der Gesellschaft. Über den ,Fall Emma‘ macht der
Text letztlich soziale Mechanismen transparent, reflektiert die (klein-)bürgerlichen
Geltungsbedürfnisse und die existenzielle Bedeutung finanzieller ,Gesundheit‘.

Ähnlich kritisch, wenngleich in seiner Darstellung weniger
drastisch greift auch Fontane in „Effi Briest“ das Motiv der Nervenkrankheit
für die Charakterzeichnung seiner Hautfigur auf. Hier dreht sich die
gesellschaftskritische Diagnose vornehmlich um die Bedeutung der Ehe und den
Konflikt zwischen Aufstiegs- und Ausstiegsbedürfnis, der Fontanes bekanntester
Frauenfigur zugrunde liegt. Wie die Referentin pointiert herausstellte, werden
dabei nicht nur Effi, sondern auch ihrem Mann bestimmte Symptome neuronaler
Erkrankungen zugeschrieben, so dass auch der ehrgeizige Prinzipienreiter ein
Stück weit als ein Opfer des ,Gesellschafts-Etwas‘ gelten muss.

Mit ihrem dritten und letzten Textbeispiel schlug die
Vortragende dann die Brücke zur Literatur des 20. Jahrhunderts; angesichts
eingespielter Vergleiche zu Fontanes Effi und Flauberts Emma – etwa Tolstois
Anna Karenina oder Frauenfiguren Henrik Ibsens – eine überraschende, aber umso inspirierendere
Wahl. In Ingeborg Bachmanns unvollendetem Roman „Der Fall Franza“ wird die
Problematik der weiblichen Patientin radikalisiert. Die Lebensgeschichte der
Titelfigur ist bestimmt von der Ohnmacht der Frau gegenüber allen Formen patriarchalischer
Gewalt. Die Geschlechterhierarchien, die den medizinischen Diskursen implizit immer
schon eingeschrieben waren (was sich an der Geschichte der Pariser Salpêtrière
gut dokumentieren ließe), werden hier explizit gemacht: Franza ist selbst
Patientin ihres Mannes, eines renommierten Psychiaters, und wird von ihm psychisch
wie körperlich misshandelt. Eine zusätzliche Faszination erhält der Roman
dadurch, dass hier das Thema der mehr oder weniger verborgenen Gewalt gegenüber
der Frau mit den ,klinischen‘ Gewaltexzessen der Nationalsozialisten zusammengeführt
wird. Gerade mit Blick auf die unterlassene Auseinandersetzung mit dem
Faschismus, so stellte die Referentin heraus, muss Bachmanns Franza als
,Patientin ihrer Zeit‘ angesehen werden. 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.