Text: Matthias Grüne
Fotos: Monika Stoye
In der letzten Veranstaltung des Fontane-Kreises Leipzig im Jahr 2011 gab Frau Uta Beyer, aktuell Promovendin an der Universität Leipzig, Einblick in ihre Forschung zur Editionsgeschichte der Briefe Theodor Fontanes. In ihrem umfassenden und vielschichtigen Vortrag ging die Referentin vor allem auf ihre methodische Herangehensweise und ihr spezifisches Untersuchungsinteresse ein, stellte diesen Aspekten jedoch einen allgemeinen Überblick über die bewegte Geschichte der Erstausgabe der Familienbriefe voran.
Anschaulich erläuterte sie in dieser Tour d’Horizon zur Editions- und Wirkungsgeschichte, wie die Briefausgabe zunächst zur zentralen, da scheinbar unverstellten Quelle für die Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit Theodor Fontanes avancierte und wie sie dazu beitrug, ein bestimmtes Autorbild auf Jahre hinaus festzuschreiben. Die Referentin stellte nun pointiert dar, wie die Briefe in dem Maße, wie sie zuvor als gleichsam authentische Zeugnisse gelesen wurden, nach Entlarvung der massiven editorischen Texteingriffe durch den Germanisten Hans-Heinrich Reuter in den 60er Jahren ihren wissenschaftlichen Zeugniswert einbüßten. Die große Medienresonanz verstärkte damals die Skandalisierung der Ausgabe als ein Negativbeispiel editorischer Treue und Zuverlässigkeit. Dieses Verdammungsurteil wurde begleitet von einem erstaunlichen Desinteresse seitens der Forschung an einer umfangreichen Aufarbeitung der Edition.
Diese Forschungslücke zu schließen, ist aber nur eines von zwei Hauptanliegen der nun in Leipzig entstehenden Promotion. Denn, wie die Referentin deutlich machen konnte, soll die überfällige systematische Aufarbeitung der Briefausgabe unter einem methodologischen Zugriff erfolgen, bei dem nicht vorrangig zwischen authentischem Original und kompilierter Fälschung getrennt, sondern der edierte Text in seiner spezifischen intertextuellen Struktur erfasst wird. Dafür bedient sich Uta Beyer des Palimpsest-Begriffes, der durch den französischen Literaturwissenschaftler Gérard Genette in die modernen Textwissenschaften eingeführt wurde. In der Handschriftenkunde bezeichnet man damit eigentlich eine Manuskriptseite, deren Text ein- oder mehrmals durch Schaben wegradiert und dann überschrieben wurde, ohne dass die Spuren des alten, zugrunde liegenden Textes ganz verschwunden sind. Für die Literaturwissenschaften nutzt Genette den Begriff, um die Heterogenität von Texten zu beschreiben: ein Text ist demnach kein monolithischer Block, sondern ein Gewebe unterschiedlichster Texte und Textstufen, ein Verweisungszusammenhang aus einer potentiell unendlichen Zahl bereits geschriebener Texte, der nicht mehr als das alleinige Produkt eines einzelnen Autors angesehen wird.
Die Referentin verstand es nun, deutlich zu machen, dass der Begriff des Palimpsests in ihrer Dissertation weniger – wie sonst üblich – in metaphorischer, als in seiner eigentlichen Bedeutung genutzt wird. Handelt es sich bei der Briefedition doch in der Tat um das ,Überschreiben‘ eines vorliegenden Textes. In der Konsequenz erlaubt die Anwendung dieses theoretischen Konzeptes auf die Erstausgabe der Familienbriefe, die dem kompilierten Text zugrunde liegenden transtextuellen Wechselbeziehungen systematisch zu erfassen und die gesamte Edition, anstatt sie nur als Fälschung zu inkriminieren, in ihrer eigenen Textgestalt zu beurteilen. Auf die Ergebnisse dieser umfangreichen Arbeit darf man gespannt sein.
Frau Beyer musste es an diesem Abend bei einigen Andeutungen bewenden lassen – machte aber zugleich Hoffnung auf einen weiteren Vortrag im kommenden Jahr, in dem dann die Früchte der komplexen methodischen Vorarbeiten präsentiert werden könnten.