Gardes du Corps – Die 1001. Finesse in „Irrungen, Wirrungen“

Text: Helmuth Nürnberger

„[…] andrerseits sag ich mir: Gott, wer liest Novellen bei die Hitze, wer hat jetzt Lust und Fähigkeit auf die hundert und, ich kann dreist sagen, auf die tausend Finessen zu achten, die ich dieser von mir besonders geliebten Arbeit mit auf den Lebensweg gegeben habe.“ (An Emil Dominik, 14. Juli 1887)

Fontanes Wortkunst ist reich an treffsicheren Formulierungen, wie dafür geschaffen, sich dem Gedächtnis einzuprägen. Irrungen, Wirrungen und sein briefliches Umfeld bieten viel zitierte Beispiele. Der dem Protagonisten der „Berliner Alltagsgeschichte“ so plauderhaft wie selbstkritisch in den Mund gelegte Schlusssatz „Gideon ist besser als Botho“, im Kontext der Erzählung ein soziales Resümee, öffnet gleichsam den Vorhang vor einer Epoche. Man lese daneben das berührende Bekenntnis in einem Brief, „es bleibe auch hier [konkret geht es um die „Dialektfrage“] bei den Andeutungen der Dinge, bei der bekannten Kinderunterschrift: ‘Dies soll ein Baum sein.’“. (An Emil Schiff, 15. Februar 1888) Klänge es nicht so unfontanisch, wäre man versucht von „Künstlerdemut“ zu sprechen, ein seltenes Phänomen. Nicht minder bezeichnend für Fontanes Selbstverständnis der eingangs zitierte 1000-Finessen-Satz: Stärker als alle Novellen ist eben „die Hitze“, ungeachtet der Ironie ist gleichwohl Erleichterung und ein gewisses Glücksgefühl angesichts einer besonders gelungenen Arbeit zu spüren.

Der märkische Landedelmann und Kavallerieoffizier Botho von Rienäcker ist eine vom Autor mit Verständnis gezeichnete, auch mit Selbsteinsicht begabte Figur. Er soll sympathisch sein und ist es auch, ist nicht beleidigt, wenn er in seinem zögerlichen Sich-treiben-lassen von seiner Wilmersdorfer „Weißzeugdame“, der Stickerin Lene, keck herausgefordert wird: „Du liebst mich und bist schwach. Daran ist nichts zu ändern. Alle schönen Männer sind schwach […].“ (5. Kap.) Nun ja, an der Schönheit allein lag es nicht. Im Krieg, vor dem „Feind“, hielt Botho sich sicherlich nicht weniger tapfer als geringer Bevorzugte, sein Standesgefühl mochte ihm zusätzlich den Rücken stärken. Auflehnung gegen die Regeln der Gesellschaft überforderte ihn. Lene war das von Anfang an bewusst, vor einer Ruderpartie gefragt, welchen Kahn sie wähle, die „Forelle“ oder die „Hoffnung“ antwortet sie: „Natürlich die ‘Forelle’. Was sollen wir mit der ‘Hoffnung’?“ Sie verlangt nichts Unmögliches. Botho brauchte länger, sich der Wahrheit zu stellen, aber er hat seine Freundin, wie sie anerkennt, nie getäuscht. Auch der Leser wird nirgends irregeleitet, alles Erzählte ist zielbezogen, wie es den Umständen entspricht. Etwas unklar bleibt die Auskunft zu Bothos Regimentszugehörigkeit. In welchem hat er eigentlich gedient?

Du liebe Güte, dergleichen kann auch nur einem Germanisten einfallen! Aber das kommt eben von den „1000 Finessen“, von denen Fontane so unvorsichtig geschrieben hat, missverstanden als ein Freibrief für die vielen Spitzfindigkeiten, die man ihm andichtete. Da haben wir nun diese für seine Kunst exemplarisch anmutende „Novelle“ – so schreibt er selbst –, die noch immer zum Nachdenken einlädt. Weiterhin zählt sie zum Lesestoff der Gymnasien und weckt, wie uns engagierte Deutschlehrer versichern, Interesse und Mitgefühl. Militärische Details belasten da nur, die blinkenden Kürasse sind verrostet, die dazu passenden historischen Romane vergilbt. In einer Zeit, in der ältere Literatur sich schwer tut, überhaupt noch wahrgenommen zu werden, sind lehrhafte Vorgaben problematischer denn je. Nicht minder ein Übermaß an Interpretation.

Dem Verfasser der vorliegenden Miszelle ist es weder gestattet, den Fleiß und Scharfsinn seiner Kollegen noch die Dankbarkeit und den gelegentlichen Unmut der Leser in Frage zu stellen, dazu war er selbst viel zu sehr mit Aufgaben der Fontane-Edition befasst und – wie im gegebenen Zusammenhang – auch beteiligt an ihren Irrtümern. Wir haben einen Traditionsbruch erlebt, daher mutet den Älteren unter uns manches, was über die Vergangenheit geschrieben wird, so aberwitzig an. Anderes wird in seiner Bedeutung übersehen (oder gar falsch erklärt). Die Drohgebärde der „wilhelminischen“ Frage: „Haben Sie überhaupt gedient?“ wird mit Hilfe des Hauptmanns von Köpenick wohl noch verstanden, hingegen: „In welchem Regiment?“ mag in Ländern wie England oder Schottland passen, wo es noch Trooping the Colour und Regimentsmuseen gibt. Gewiss – aber ein Traditionsbruch ist auch ein Problem der Literatur, der Literaturgeschichte und -rezeption. „Seinerzeit“ verstanden sich nach Auskunft mitteleuropäischer Groß- und Urgroßmütter schon die „Backfische“ auf die angedeuteten vorgeblichen Nebensächlichkeiten, „unsere“ Effi nicht ausgenommen und Fontane nun schon gar nicht. Arglose Dichter in kleinen Städten bekamen das zu spüren, etwa Claus Groth; der nicht verstand, warum Fontane sich bei einem gemeinsamen Spaziergang im entstehenden Reichskrieghafen Kiel fortgesetzt nach den Nummern der Regimenter und den Namen der Panzerschiffe erkundigte. Preußen und seine Armee gehörten für Fontane zusammen, wie hätte er seine darauf bezüglichen Kenntnisse nicht auch für seine „Finessen“ nutzen sollen. Die genannte Zahl 1001 verweist nicht auf morgenländische Märchennächte – nur eine Landpartie (mit Übernachtung) war Lene und Botho vergönnt, und sie wurde ihnen zudem noch gründlich verdorben, weil drei gelangweilte Gardeoffiziere, offenbar Regimentskameraden, nichts Besseres zu tun hatten, als das Idyll zu stören.1001 bezeichnet einen Annäherungswert, 1000 Finessen sind schon bekannt und vielleicht noch einige mehr, aber da sich manche Erklärungen widersprechen, können nicht alle zutreffend sein … So steht es auch mit Auskünften über Bothos Regiment.

Ein zuerst 1984 veröffentlichter Brief Fontanes an Eduard Engel enthält Überlegungen zum Vorabdruck von Irrungen, Wirrungen, die neue Novelle behandelt „das Verhältniß eines schönen Gardekürassieroffiziers zu einer […] Weißzeugstickerin, von der er sich schließlich trennt, weil er muß“ (21. April 1884). Die preußische Armee zählte zur fraglichen Zeit 10 Kürassierregimenter, davon gehörten zwei zum Gardekorps: das von König Friedrich II. 1740 errichtete Regiment Gardes du Corps, und das 1815 aufgestellte „Gardekürassierregiment“; die übrigen trugen die Nummer 1 bis 8 und waren nach Fürstlichkeiten und Militärs benannt, davon nur eines nach einem Kaiser. Im Roman ist die Heiratsanzeige Bothos abgedruckt, dort bezeichnet er sich selbst als „Premierlieutenant im Kaiser-Kürassier-Regiment“. So wird er auch im Nobelrestaurant Hiller von seinem Onkel angesprochen, der ihn drängt, endlich um die so vermögende wie flachsblonde Käthe von Sellenthin zu werben: „Zähne wie Perlen und lacht immer, daß man die ganze Schnur sieht […]. Botho, wozu stehst Du bei den Kaiserkürassieren?“ (7. Kap.) Um ein angesehenes, traditionsreiches Regiment handelte es sich sicherlich, aber um welches? Die Ranglisten verzeichneten kein „Kaiserkürassierregiment“.

Die Verfasser der Anmerkungen in den Fontane-Ausgaben orientierten sich, soweit sie nicht auf eine Erläuterung verzichteten, an dem nur einmal vorfindbaren Namensbestandteil „Kaiser“. Demzufolge handelte sich anscheinend um das brandenburgische Kürassierregiment Nr. 6 Kaiser Nikolaus I. von Russland. Zum Romancier Fontane passte das gut. Auch seinen Major von Stechlin hatte er bei den Nikolaus-Kürassieren eingereiht, und ihn stolz von dieser Zugehörigkeit und der niedrigen Regimentsnummer plaudern lassen. Selbst Dubslavs „berühmter Miteinsiedler“, Bismarck, trug „nur“ die Uniform der 7. Kürassiere, der „schwefelgelben“ Halberstädter, eine Farbe, die wiederum nur zu gut zu Bismarck passte, bemerkte doch ein bayerischer Reichstagsabgeordneter gelegentlich: „Durchlaucht, ich weiß, wo dies Schwefelgelb herkommt.“ (An Julius Rodenberg, 9. Juni 1989) Der Sohn des Swinemünder Apothekers Fontane wusste eine Menge von dem mächtigen Nikolaus, der mit dem Dampfschiff über die Ostsee kam, um seinen Schwiegervater, den preußischen König zu besuchen. Später, in Leipzig, nahm sich das zwar weniger prächtig aus. Da fragte man den jungen Apotheker spöttisch, ob der Zar denn wieder auf „Inspektionsreise“ sei, um nachzusehen, „ob sein ‘Unterknäs’ Friedrich Wilhelm der Vierte keine Dummheiten gemacht habe“. Dennoch: Als es „immer so hin und herging zwischen Berlin und Petersburg“, meinte der alte Stechlin, das seien „Preußens beste Tage“ gewesen. (Der Stechlin, 4. Kap; Von Zwanzig bis Dreißig, Abschnitt und Kapitel 2/2 und 4/6) Im Roman wird der Name von Dubslavs Regiment zur Metapher für ein Programm, nicht anders als der des Gardedragonerregiments „Königin von Großbritannien und Irland“, in dem sein Sohn Woldemar dient. In der Diplomatie, mehr noch in einem Roman, hat alles Bedeutung. Man ist genau und schickt nicht nur, wie vielleicht ein Finanzminister, einfach „die Kavallerie“.

AkademieblockNord-West-Seite des „Akademieblocks“ Charlotten-/Dorotheenstraße um 1910, vor dem Abriss des ganzen Gebäudekomplexes zwecks Baues der Staats- und der Universitätsbibliothek. Darin war die 3. Eskadron vom Gardekürassierregiment des Gardes du Corps kaserniert. Links hinten der Turm der Kgl. Sternwarte. Quelle: Janos Frecot/Helmut Geisert: BERLIN in frühen Photographien 1857-1913. Schirmer/Mosel, München 1984, S. 43.

Leider war die Zuordnung falsch. Das Kürassierregiment Nr. 6 kam gar nicht wirklich in Frage, es hat nie in der Hauptstadt garnisoniert, sondern in der märkischen Provinz, hauptsächlich in Brandenburg/Havel und Nauen. Es hätte sehr komplizierter Begründungen, eigentlich einer anderen Erzählung bedurft, um diese Garnisonsorte mit Bothos Biographie und seiner „Berliner Alltagsgeschichte“ in Verbindung zu bringen. Es war aber auch nicht nötig, da doch die beiden Gardekürassierregimenter in Berlin und Potsdam stationiert waren. Das eigens so benannte „Gardekürassierregiment“ war über seine elitäre Beschaffenheit hinaus freilich durch keine besondere Beziehung zum Kaiser gekennzeichnet; bei den Gardes du Corps hingegen war eine Veränderung eingetreten, die als Erklärung dienen konnte: Chef des Regiments, das seit seiner Gründung die berittene Leibgarde der preußischen Könige darstellte, war der jeweilige Monarch. Seit 1871 aber waren die preußischen Könige zugleich deutsche Kaiser. Es war mithin sachlich nicht falsch, nunmehr von „Kaiserkürassieren“ zu sprechen. Offiziell galt der ursprüngliche Name unverändert bis zur Auflösung des Regiments 1919; daneben aber gab es offenbar auch die etwas  unbestimmte deutsche Bezeichnung. Im nach dem siegreich bestandenen deutsch-französischen Krieg anschwellenden Nationalismus mochte dabei der Wunsch mitspielen, das fremde Idiom abzulegen.

Joachim Kleine hat über Berliner und Zeuthener Schauplätze von Irrungen, Wirrungen grundlegend geschrieben. In diesem Zusammenhang ist er auch der Frage, welchem Regiment Fontane seinen Botho von Rienäcker – ohne es ausdrücklich namhaft zu machen – zuordnete, zu überzeugenden Einsichten gelangt. Er ist Bothos Wege von seiner Kaserne zur Verabredung bei „Hiller“ und in sein Kasino unter Berücksichtigung der im Roman genannten Zeitmaße nachgegangen, wobei es die Kaserne – über deren Lage Fontane sich nicht äußert – erst noch zu identifizieren galt. Der Verfasser ist Joachim Kleine für sein freundliches Entgegenkommen zu besonderem Dank verpflichtet, das ihm erlaubt, die maßgebende Passage aus dem noch ungedruckten Vortrag nach dem Manuskript zu zitieren:

Im 7. Kapitel verrät uns eine Schilderung Fontanes, bei welchem Truppenteil wir Botho von Rienäcker zu vermuten haben: […] beim Kürassierregiment der Gardes du Corps. Dessen Stab und drei von fünf Eskadronen hatten in Potsdams Berliner Vorstadt ihren Standort, die 4. Eskadron lag gegenüber vom Schloss Charlottenburg in Bereitschaft, die 3. Eskadron aber – zwei Kompanien – hatten in Berlin ständige Begleit- und Schutzaufgaben für den „allerhöchsten“ Landesherrn zu erfüllen und waren deshalb unweit vom Berliner Schloss, im Marstall untergebracht. Der befand sich damals (der Monumentalbau zwischen Spree und Breiter Straße, wie wir ihn kennen, entstand erst später) noch nördlich der Linden, im Nordwestflügel des sogenannten Akademieblocks – 1876 ein Vierteljahr lang Fontanes Dienststelle als Sekretär der Kunstakademie. Spätestens von da an musste Fontane den Kavalleriekasernenflügel in der Charlotten-/ Ecke Dorotheenstraße gekannt haben.

In Irrungen Wirrungen verliert Fontane über all das kein Wort. Doch nur durch diese räumliche Nähe konnte Botho von Rienäcker nach seinem Dienst – den Fontane ebenso ausblendet – so rasch in seinen „Klub“, ins Offizierskasino gelangen; denn das befand sich nur einige Straßen weiter, jenseits der Linden an der Südseite des Pariser Platzes. Nur weil dem so war, konnte er – wie im Kapitel 7 beschrieben – an dem Tag, als die Weichen für seine eheliche Verbindung unwiderruflich gestellt wurden, von seiner Kaserne aus zu Fuß binnen einer Stunde die Linden erreichen, sie entlang bummeln, die Auslagen der Kunsthandlung Lepke betrachten, das Brandenburger Tor passieren, an der Wolffschen Löwengruppe im Tiergarten umkehren, vor dem Palais Redern den Garde-Dragoner-Leutnant v. Wedell zu treffen (der ihm auf dem Weg zum Kasino entgegen kam) und mit ihm zur befohlenen Zeit beim Onkel Kurt-Anton v. Osten im Nobelrestaurant Hiller Unter den Linden 62 (zwischen Schadow- und Neustädtischer Kirchstraße) einkehren.

Es gibt keine Darlegung von gleicher Plausibilität, die diesen Ermittlungen konkurrierend im Weg stünde. Kleine hat gleichwohl ein bedachtes „vielleicht“ hinzugesetzt, im Kontext gelesen drückt dieses „vielleicht“ jedoch keine Unsicherheit aus. Die vorschnelle Festlegung auf das Kaiser-Nikolaus-Regiment stammte aus der Frühzeit der „Fontane-Renaissance“, war verursacht durch schwierige  Arbeitsbedingungen, politische Grenzen, die fehlende Vertrautheit vor Ort. Leider wurde sie zu lange ungeprüft übernommen. (s. GBA, Das erzählerische Werk, Bd.10, S. 251).

Aber wir sind noch nicht zu Ende, denn gerade die neuen Einsichten verstärken das Interesse an einer weiterführenden Frage. Warum hat Fontane es vermieden, Rienäcker als einen Gardes du Corps zu benennen, sogar wenn es sich um ein gesellschaftliches Dokument wie die Heiratsanzeige handelte? Überzogen national, gar antifranzösisch fühlte er mit Sicherheit nicht. Und es ist ja auch nicht so, dass er die Bezeichnung „Gardes du Corps“ generell vermieden hätte. Betreffend Bothos Offizierskameraden, die wir zuerst im 8. Kapitel des Romans kennenlernen, wird von Serge ausdrücklich gesagt, dass er diesem Regiment angehört. Von Pitt heißt es, er sei von „den Pasewalkern abkommandiert“, dabei handelt es sich um das in Pasewalk stationierte pommersche Kürassierregiment Nr. 2, Königin, ehemals – durch den „Hohenfriedberger Marsch“ – lange bekannt gebliebene Dragonerregiment Ansbach-Bayreuth. Auch Balafré gehört offenbar zu den Gardes du Corps, von ihm wird später – im 18. Kap. – gesagt, dass er „bei Mars la Tour, damals noch als Halberstädter, die große Attacke mitgeritten“ habe. Alle drei stehen mit Botho, wie auch der Fortgang der Handlung bezeugt, auf vertrautem Fuß und kennen ihn mehr oder minder gut, ohne eigentlich seine Freunde zu sein. Von Wedell – kein Regimentskamerad, sondern, wie bereits erwähnt, Gardedragoner, – der später hinzukommt, gilt das schon eher, von ihm hören wir gegen Schluss des Gesprächs eine sympathische Charakterisierung Bothos, dieser sei „trotz seiner sechs Fuß, oder vielleicht auch gerade deshalb […], schwach und bestimmbar und von einer seltenen Weichheit und Herzensgüte.“ (Hervorhebung vom Verf.)

Botho ist nicht wie die anderen, darüber sind sich eigentlich alle im Roman einig. Übrigens ist auch Lene im Urteil der Beteiligten nicht wie die andern, sie ist ungeachtet der beengenden Verhältnisse sehr selbständig und von unverkennbarer Eigenart. Versuchsweise ließe sich sagen, Fontanes präzise Beschreibungen der Nebenfiguren lassen diese wie Originale erscheinen, gleichwohl wirken sie wie für eine bestimmte Spezies typische Charaktere. Wenige Buchseiten genügen ihm, um eine Figur wie Bothos Onkel Baron von Osten überzeugend zu porträtieren. Fontanes Hauptfiguren aber sind alles andere als typische Vertreter ihrer Klasse. Botho, freundlich und „leutselig“ gegenüber jedermann, entspricht keineswegs dem nicht immer günstigen Bild des preußischen Gardeoffiziers, wie es von Zeitgenossen überliefert ist – eine Beobachtung, die in etwas anderer Weise auch für Woldemar von Stechlin gilt. Er hat den Schliff der Gardeoffiziere, erscheint nicht geradezu „leutselig“, aber er ist bar jedes aufdringlichen „Schneids“, formsicher und von tadelfreier Haltung.

Ludwig Pietsch, der in der Schlesischen Zeitung eine insgesamt sehr anerkennende Besprechung von Irrungen, Wirrungen erscheinen ließ, hat – es war sein einziger Einwand – die Darstellung Bothos in Frage gestellt. Der Dichter, so urteilte er, lasse ihn „zuweilen seinen Standesgewohnheiten etwas mehr entsagen, als wir es wenigsten bei einem heutigen preußischen Garde-Kavallerie-Offizier von altem Adel […] für möglich und wahrscheinlich halten möchten“ (zit. nach AFA, Romane und Erzählungen, Bd. 5, 1969, S. 549). Das trifft zu, wenn man Botho als einen typischen Vertreter seines Standes versteht. Typisch ist aber nur Bothos Konflikt, nicht sein Verhalten. Fontane versagt sich dem vorgegebenen Muster und den mit diesem verbundenen Klischees, er zeichnet einen sehr natürlich empfindenden Menschen, der den für ihn unlösbaren Konflikt darum umso schmerzlicher erlebt – eine Figur, wie sie gedacht werden kann, aber ohne alle exemplarischen Züge. Wie Fontane Bothos Regimentskameraden gesehen wissen wollte, lassen die Art, wie sie auf dessen Liebschaft reagieren und die Kasinoszenen nur zu deutlich erkennen. Botho erweist sich auch in solchem Zusammenhang keineswegs als kämpferische Natur. Sein teurer Lebensstil überfordert ihn (und macht ihn vermehrt zum Gefangenen), peinliche Kameraderie bleibt ihm nicht erspart, aber er lässt es geschehen, spielt mit. Was ihn umso mehr und fortdauernd anzieht, ist Lenes „Natürlichkeit“, ein unverstelltes Leben.

Verwunderung und Ärgernis, auch der spätere große Erfolg, den der Roman erregte, sind bekannt. Wären sie noch größer, vielleicht sogar für den Autor persönlich gefährlich gewesen, wenn Botho, der so gern – eigentlich wohl unerlaubt – Zivil trägt, betont als der herausgestellt worden wäre, der er tatsächlich war: Angehöriger nicht irgend eines Garderegiments – denn die gab es inzwischen auch schon leidlich im Plural – sondern des Paraderegiments der Monarchie schlechthin, zudem als eine Schöpfung des großen Friedrich, mittlerweise bereits eine Legende? Die Gardes du Corps und noch weitere Einheiten durchliefen nach Entstehung des Kaiserreiches überdies noch eine besondere Entwicklung, die in Fontanes letztem Roman beschrieben wird. Nach der Ankunft in Schloss Stechlin hält Hauptmann von Czako – ein „Maikäfer“, so nennt der Volksmund die Männer des Gardegrenadierregiments „Kaiser Alexander I. von Russland“ – dem ehrgeizigen Assessor von Rex ein Privatissimum über die veränderten Verhältnisse, speziell im Regiment des jungen Woldemar von Stechlin. Es geht darum, „daß die feinen Regimenter immer feiner werden“:

Kucken Sie sich mal die alten Ranglisten an, das heißt wirklich alte, voriges Jahrhundert und dann bis anno sechs. Da finden Sie bei Regiment Garde du Corps oder bei Regiment Gensdarmes unsere guten alten Namen:

Marwitz, Wakenitz, Kracht, Löschebrand, Bredow, Rochow, höchstens daß sich einmal ein höher betitelter Schlesier mit hineinverirrt. Natürlich gab es auch Prinzen damals, aber der Adel gab den Ton an, und die paar Prinzen mußten noch froh sein, wenn sie nicht störten. Damit ist es nun aber, seit wir Kaiser und Reich sind, total vorbei. Natürlich sprech’ ich nicht von der Provinz, nicht von Litauen und Masuren, sondern von der Garde, von den Regimentern unter den Augen seiner Majestät. Und nun gar erst diese Gardedragoner! Die waren immer piek, aber seit sie pour combler le bonheur, auch noch „Königin von Großbritannien und Irland“ sind, wird es immer mehr davon, und je pieker sie werden, desto mehr Prinzen kommen hinein. Von denen auch jetzt schon mehr da sind, als es so obenhin aussieht, denn manche sind eigentlich welche und dürfen es bloß nicht sagen. Und wenn man dann gar noch die alten mitrechnet, die blos à la suite stehn, aber doch immer noch dabei sind, wenn irgendwas los ist, so haben wir, wenn der Kreis geschlossen wird, zwar kein Parkett von Königen, aber doch einen Zirkus von Prinzen. Und da hinein ist nun unser guter Stechlin gestellt. Natürlich tut er, was er kann, und macht so gewisse Luxusse mit, Gefühlsluxusse, Gesinnungsluxusse, und, wenn es sein muß, auch Freiheitsluxusse. […] Richtige Prinzen können sich das leisten, die verbebeln nicht leicht. Aber Stechlin! Stechlin ist ein reizender Kerl, aber er ist doch bloß ein Mensch. (Der Stechlin, 2. Kap.)

Südseite des Pariser Platzes um 1885Südseite des Pariser Platzes um 1885. Ganz links Palais Redern (heute Hotel Adlon), daneben Palais Arnim, Mitte Palais Radziwill (vormals Wrangel), in dessen Hochparterre sich das vornehmste Berliner Offizierskasino befand.
Quelle: CAMERA BEROLINENSIS. Das Berliner Album des Fotografen F.Albert Schwartz 1836 – 1906. Nicolai. Berlin 2006. S. 69.

Der Stechlin spielt Mitte der Neunziger Jahre, Irrungen, Wirrungen Mitte der Siebziger. Damals hatte die von Czako beschriebene Entwicklung erst begonnen, aber Fontane vollendete den Roman erst im letzten Drittel der Achtziger, also im Rückblick auf die erzählte Zeit. Im Hinblick auf das Regiment der Gardes du Corps läge es nahe, dass er mit ins Auge fallenden Bezeichnungen eher vorsichtig war, um eventuellen Empfindlichkeiten vorzubeugen. Aber es widerstrebt unserem Verständnis (ein Kunstwerk duldet nichts Zufälliges) für die fortbestehende Undeutlichkeit nur pragmatische Gründe anzunehmen. Sie verweist möglicherweise auch auf Fontanes Intention und hängt so auch mit der langen Entstehungszeit des Romans zusammen.

Eigentlich brauchte er für das, was er zu erzählen beabsichtigte, die anspruchsvolle Sonderheit des „Leibregiments“ nicht, alles, was das Sensationelle streifte, mochte die Überzeugungskraft des Dargestellten eher mindern. Auch in einem weniger angesehenen Regiment hätte Botho sich mit Lene an der Seite nicht behaupten können, bereits seine und seiner Familie finanzielle Zwangslage hätten ihn scheitern lassen. So wie es lag, hatte er gar keine Wahl. Der Roman wird nicht der erhofften Fluchtchancen wegen erzählt, sondern um zu zeigen, dass es, zumindest in diesem Fall, keine gab. Wie das erlitten und dargestellt wird, daraus bezieht er seine ungewöhnliche Wirkung.

Gleichwohl fehlt es der Erzählung nicht an Motiven und Handlungselementen, die über eine „Berliner Alltagsgeschichte“ – diese Bezeichnung hat Fontane sich erst spät zu Eigen gemacht – hinausführen und auf die mehrere Jahre früher erschienene „Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes“ Schach von Wuthenow zurückverweisen. (Genetisch betrachtet ist der zeitliche Abstand wegen der langen Entstehungszeit von Irrungen, Wirrungen eher gering). Auch Botho ist, wie Schach, ein schöner Mann, dabei eher passiv und außengeleitet. Das Ansehen, das die beiden Regimenter genießen, ist vergleichbar, auch in vergleichbarer Weise trügerisch: „Eine Schlacht ist nie verloren, solange das Regiment Garde du Corps nicht angegriffen hat. Oder natürlich auch das Regiment Gensdarmes. Denn sie sind Geschwister, Zwillingsbrüder.“ (Schach von Wuthenow, 3. Kap.) Schach von Wuthenow spielt größtenteils vor der Niederlage von 1806. in der die Gensdarmes unrühmlich kapitulierten und danach nie wieder aufgestellt wurden. Die Gardes du Corps endeten erst 1919, aber am Ende des 19. Jahrhunderts waren die Tage der Kavallerie längst gezählt. Der elitäre Anspruch der Verantwortlichen blieb davon unbeeindruckt. Fontanes Erzählungen zeigen die Inhaltslosigkeit und Spielsucht des Lebens im Kasino, die zu allerlei Eskapaden einlud. Hier wie dort handelt es sich um Dekadenzmotive. In Irrungen, Wirrungen blieben sie im Hintergrund. Während in Schach von Wuthenow der Name des Regiments im Titel, erscheint, findet er in Irrungen, Wirrungen sogar im Text kaum Verwendung. Der Erzähler gibt Hinweise, hält sich aber zugleich bedeckt. Wie nicht selten, wenn ihm etwas wichtig war, nahm er sich, um es auszudrücken, zurück. Vermutlich waren Fontane die später von Pietsch geäußerten Bedenken durchaus nicht fremd. Die „grässliche Hurengeschichte“ – als die Irrungen, Wirrungen gelegentlich auch bezeichnet wurde – bedurfte eher leiser als lauter Töne. Es war ihnen ernst, Botho und Lene mit ihrer Liebe, dem Autor mit seiner „Alltagsgeschichte“. Ein aus Entwürfen und aus der für eine Tombola bestimmten Abschrift mühsam rekonstruiertes Gelegenheitsgedicht Fontanes schließt: „Höchst moralisch – meo voto – / Ist die Geschichte von Lene und Botho.“ (HFA I/6, S. 546, 3. Aufl. 1995). Eine „Alltagsgeschichte“, also auch mit komischen Zügen besetzt, wie es sich gehört. Begleiten wir Botho auf seinem „Passionsweg“ (H. Frey) nach dem neuen Jacobifriedhof in Rixdorf, wo er den für Frau Nimptsch bestimmten Immortellenkranz niederlegen will, hören wir den Droschkenkutscher von seinen Sorgen erzählen. Sein Schimmel ist nicht in der besten Verfassung, und die Reserve im Stall auch nicht: „Ich habe noch einen Fuchs zu Hause, der bei den Fürstenwalder Ulanen gestanden hat; propres Pferd, man bloß keine Luft nich un wird es woll nich lange mehr machen.“ (21. Kap.)

Ein „propres Pferd“ gewiss und die Regimentszugehörigkeit sagt schon einiges aus, auch wenn die meisten sie gar nicht selbst gewählt haben und auch nichts Näheres darüber wissen. Sicherlich kannte der Fuchs außer den Trompetensignalen auch den Kaiser-Alexander-Ulanen-Marsch.

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