Fontane-Kreis Leipzig: Matthias Grüne über Fontanes sprichwörtliche Wahrheiten

Text: Uta Beyer
Fotos: Monika Stoye

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Mit seinem Vortrag am 6. November in der Stadtbibliothek Leipzig stellte sich Matthias Grüne (Dokto­rand, Universi­tät Leip­zig) Redensarten im Fontane-Werk, womit er „Fontanes sprichwörtli­che[n] Wahrhei­ten. Über die Kunst, aus Sentenzen Romane zu spinnen“ in einer text-kritischen Lek­türe an Empi­rie gefestigter Spruchweisheiten nachgegangen ist.

In lebendiger Vergegen­wärtigung Fontanescher Aussprüche vollbrachte der Referent eine theoreti­sche Hinwendung und systematische Neulesung der novellenhaften Stine (1890), womit er die sinnfäl­lige Verknüp­fung einer kunst­vollen Verwendung alltagskluger Floskeln und prognosti­scher Sprichwörter, deren Standhaftigkeit in Erfahrung und unverrückbaren Lebenszuständen gründe, mit der Textbildung bei Fon­tane offenbar machte. Verfolgt wurde dabei die Forschungs­frage nach der Funktionalität ge­zielt zum Ein­satz gebrachter Sinnsprüche, Aphorismen und Weissa­gungen, die Matt­hias Grüne hervorzu­bringen und auf formelhafte Refe­renztexte (z.B. Irrungen Wirrungen, 1888) vergleichs­weise zu beziehen vermocht hat.

So entschlüsselte der Vortra­gende an konkreten Passagen, wie topische Formen zu Werkzeu­gen realisti­schen Schreibens ge­raten, die ihrerseits zur Charakterzeichnung von Erzählfigu­ren performa­tiv eingesetzt werden und der Beschreibung vorausgewie­sener Ereignisse außerdem dienen.

Erwartungen an typisches soziales Handeln, das dem sprichwörtlichen Denken entspringe, wei­sen auf die Sta­tik des drohenden Unausweichlichen und Vorhersagbaren ebenso voraus, wie der „unge­wisse Wahrheits­wert“ der Glaubenssätze zu besonderen Ausnah­men und individuellen Verkehrungen vertrau­ter Schemata anreize und zum unerwarteten Bruch mit der wirkmächtigen Ord­nung herausfor­dere, oder immerhin den Kompromiss, eine Annäherung zu den Oberen versuche: „Alles, was unten ist, kommt mal wieder obenauf, und was wir Leben und Geschichte nennen, läuft wie ein Rad“.[1]

Dem unkonventionel­len Emporwollen und skandalösen Abweichen von den gegebenen Verhältnissen sei jedoch ein Scheitern an der Gewohnheits­macht und dem Regulativ gesellschaftlicher Ränge un­auslösch­lich eingeschrieben, wenn wohl auch die Figur der Witwe Pittelkow geradewegs zwi­schen den Antithesen verläuft.

„[…] Ach, Stine, Liebschaft! Glaube mir, daran stirbt keiner, un auch nich mal, wenn’s schlimm geht. Was ist denn groß? Na, dann läuft ne Olga mehr in der Welt rum, un in vier­zehn Tagen kräht nich Huhn nich Hahn mehr danach. Nein, nein, Stine, Liebschaft is nich viel, Liebschaft is ei­gentlich gar nichts. Aber wenn’s hier sitzt“ (und sie wies aufs Herz) „dann wird es was, dann wird es eklig.“

Stine lächelte.[2]

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[1] Theodor Fontane: Stine. Roman. Mit einem Nachwort von Dietrich Bode. Stuttgart 2009. Zwölftes Kapitel, S. 72-84: S. 79.

[2] Fontane 2009, Zehntes Kapitel, S. 55-59: S. 58.

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