Fontane-Kreis Leipzig: Schneiden, Kleben, Skizzieren – Theodor Fontanes Notizbücher

Vortrag von Dr. Gabriele Radecke in der Leipziger Stadtbibliothek am 25. April 2018

Text: Matthias Grüne
Foto: Monika Stoye

Die bekannteste Fotographie Fontanes zeigt ihn in einer Pose, wie wir sie vom Dichter erwarten würden: am Schreibtisch sitzend, den Stift in der Hand, offenbar bereit, den nächsten Einfall sogleich zu notieren, den Blick erhoben und ins Unbestimmte gerichtet. Ein etwas anderer Fontane wurden den Zuhörern präsentiert, die am 25. April in großer Zahl in die Leipziger Stadtbibliothek gekommen waren, um einen Vortrag von Gabriele Radecke über Fontanes Notizbücher zu hören. Denn in den 67 kleinformatigen Büchlein, die Fontane zwischen 1859 und Ende der 1880er Jahre geführt hat, begegnet man weniger dem Schreibtisch-Autor als dem Wanderer und Reisenden, der allerlei Eindrücke und Informationen zu späterem Gebrauch festhält; man begegnet auch dem Theaterjournalisten, der sich noch in den Aufführungen Notizen über Stück und Schauspieler macht, lernt dazu Fontane als recht passablen Zeichner kennen, dem offenbar daran gelegen ist, seine visuellen Eindrücke von den besuchten Plätzen und den geschauten Gegenständen möglichst genau festzuhalten; schließlich erfährt man, dass der Dichter nicht nur mit der Schreibfeder, sondern auch mit Schere und Klebstoff umzugehen weiß und sich nicht scheut, Blätter herauszutrennen oder Ausschnitte einzukleben, um mit diesem Material weiterarbeiten zu können.

„Schneiden, Kleben und Skizzieren“ war dann auch die Überschrift, unter der die Referentin ihren Vortrag gestellt hatte. Gabriele Radecke, Leiterin der Theodor Fontane-Arbeitsstelle an der Georg-August-Universität Göttingen, arbeitet seit 2011 mit ihrem Team an einer genetisch-kritischen Hybrid-Edition, für die erstmals alle Notizbuchniederschriften erschlossen, editorisch aufbereitet und als eigenständiges Textkorpus im Internet kostenfrei zugänglich gemacht werden; verschiedene Ansichtsmöglichkeiten werden dann dem Nutzer zur Verfügung stehen: die digitalisierten Manuskriptseiten, eine sehr präzise, auch die räumliche Anordnung berücksichtigende Transkription und schließlich eine edierte Fassung, die parallel auch in Buchform erscheint. Das Projekt, das in Zusammenarbeit mit der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen entsteht und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft großzügig gefördert wird, steht unmittelbar vor dem Abschluss, erste Ergebnisse können auf der Seite https://fontane-nb.dariah.eu/index.html bereits eingesehen werden.

Was für ein enormer Aufwand hinter dieser Edition steht, konnten die Zuhörer in der Leipziger Stadtbibliothek freilich allenfalls erahnen. Denn Radecke verzichtete weitgehend darauf, den Entstehungsprozess einer maschinenlesbaren Transkriptionsfassung zu erläutern und ihr Publikum in das Dickicht der Metadaten-Wälder zur führen – obwohl das Editionsprojekt gerade auf diesem Gebiet Pionierarbeit leistet und bereits jetzt zu einem Referenzmodell für künftige digitale Editionen geworden ist. Die Referentin nutzte stattdessen die Gelegenheit, den Notizbuchschreiber Fontane in möglichst vielen Facetten vorzustellen. Dass es ihr dabei ausgezeichnet gelang, das Interesse der Zuhörer für diesen doch wenig bekannten Teil des Fontane`schen Werkes zu wecken, zeigte sich anschließend in einer lebhaften Gesprächsrunde. Beflügelt wurde die Diskussion wohl auch durch die freudige Aussicht darauf, mit Abschluss des Editionsprojektes bald selbst auf eine Entdeckungsreise durch die Notizbücher gehen zu können.

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