Hainstraße und Poststraße – So wohnte Fontane in Leipzig

Von Brunhilde Rothbauer

Im Frühling 1841 zog Theodor Fontane in Leipzig ein, und mit Begeisterung schildert er den Weg vom Augustusplatz durch die lebhafte Grimmaische Straße und den Marktplatz bis zur Adler-Apotheke in der altehrwürdigen Hainstraße. Seine Euphorie verebbt auch nicht angesichts der Wohnverhältnisse in seiner neuen Arbeitsstelle – im Gegenteil:

„Über einen schmalen und rumplig verbauten Hofweg – der mich übrigens durch seine Giebel und Dächer und vor allem durch unzählige Dachrinnen, die bis in die fast überlaufenden Wasserkübel hinunterreichten, aufs äußerste interessierte – stiegen wir drei Treppen hoch in ein Hinterhaus hinauf, in dessen oberster Etage das Personal in drei Stuben untergebracht war. Eine der Stuben gehörte dem älteren Herrn, dem Geschäftsführer … für uns andere aber – und wir waren unser vier – existierte nur eine daneben gelegene kleine Stube mit einem noch kleineren Alkovenanhängsel, in welch letzterem vier Betten standen, von denen zwei nur mit Hilfe von Überklet terung erreicht werden konnten. Dieser Alkoven, fensterlos, erhielt sein Licht durch das vorgelegene Zimmer, das aber eigentlich auch kein Licht hatte.Wo sollte es auch herkommen? Der Hof war fast ganz dunkel, und das bißchen Helle, das er hatte, fiel durch ein elendes Mansardenfenster ein …. Ich hätte guten Grund gehabt, alles sehr sonderbar und beinah schauderhaft zu finden, es lag aber in meiner Natur, mich von diesen Dingen mehr angeheimelt als abgestoßen zu finden …. Nun, hier war nichts hübsch und Komfort kaum dem Namen nach bekannt, aber die grauen, steilen, regenverwaschenen Dächer, der gekräuselte Rauch, der aus den Schornsteinen aufstieg, und das Plätschern des Wassers, das aus den Röhren in die Kübel fiel – alles gewann mir ein Interesse ab und selbst der Blick in den Alkoven konnte mich nicht umstimmen. Es stand mir aufs neue fest, daß es mir hier gutgehen würde. Und es ging mir auch gut.“

Dies galt zumindest einen Sommer lang mit den morgendlichen Bädern in der Elster und anschließenden Besuchen im Rosental – Café Kintschy sowie den langen Herbstspaziergängen auf die Schlachtfelder um Leipzig und noch längeren Ausflügen mit dem hochgebildeten Zeitschriftenredakteur Dr. Günther, einem Schwager Robert Blums.

Im Winter aber zeigte sich die Kehrseite des feuchten Wolkenkuckucksheims. Pünktlich im Februar brach die alte Krankheit wieder aus, die ihn bereits vor einem Jahr niedergeworfen hatte „Gelenkrheumatismus und Typhus mit seiner bekannten nahen Verwandtschaft zum Nervenfieber“. Wie auch immer diese Diagnose gestellt worden war, – von einem Arzt ist nicht die Rede, auch nicht, wie man erwarten könnte, von eventuellen pharmazeutischen Hilfen der Apothekerkollegen. Unter den oben geschilderten Verhältnissen hätte die Krankheit leicht übel ausgehen können, wenn nicht „Tante Pinchen“ auf den Plan getreten wäre, die ihn nicht nur mit Apfelsinen und Gelée stärkte, sondern auch durch Geplauder und höchst aufschlußreiches Vergleicheziehen zwischen Berliner und sächsischem Regionalcharakter unterhielt und von seinen Schmerzen ablenkte. Tante Pinchen, eine flotte Mittdreißigerin, war die Frau seines Onkels August, eines vielseitig begabten Lebenskünstlers, der unverkennbar die väterlich Fontaneschen Familieneigenschaften mitbrachte, was vom alternden Schriftsteller vorwiegend kritisch gesehen wurde. Bei alledem aber erwies sich jener Onkel August, den es nach einem betrügerischen Bankrott in Berlin nach Leipzig verschlagen hatte, als Retter in der Not. Zu ihm und zur „seraphischen“ Tante Pinchen, die eine Wohnung in der Poststraße gefunden hatten, zog der junge angehende Dichter nach sechswöchigem Krankenlager im April 1842 „voll Hoffnung und in guter Stimmung“ aus seiner „Typhusbrutstätte“ unter gleichzeitiger Aufgabe seines Arbeitsverhältnisses in der Apotheke, wo man froh war, den Arbeitsunfähigen loszuwerden.

Leider spricht Fontane nur von den trockenen und hellen Zimmern in der Poststraße, wir kennen nicht die Nummer des Hauses (in den Adressbüchern sind nur die Hausbesitzer verzeichnet), noch erfahren wir – im Gegensatz zu den farbig prallen Beschreibungen aus der Berliner Zeit 1833 bis 1835, in der er als Sechzehnjähriger bereits unter Onkel Augusts nur lax wahrgenommener Erziehungshoheit stand – etwas über das Haus und seine Bewohner.

Die alte Poststraße in Leipzig gibt es nicht mehr, sie wurde am 4. Dezember 1943 ein Opfer der Bomben, einschließlich des namensgebenden großen Postgebäudes an der Ecke zum Augustusplatz, dem Stolz der Leipziger. Bis zu dessen Errichtung 1838 hieß die kurze Straße in der Grimmaischen Vorstadt „Neue Johannisgasse“.

In Bezug auf die Lage und das hygienische Umfeld stellte sie eine enorme Verbesserung gegenüber der eng bebauten Innenstadt dar. Um die Jahrhundertmitte gab es dort ca. 770 Häuser, in denen je etwa 32 Einwohner lebten. Die kleinen Hinterhöfe und Durchgänge waren dunkel und dicht bebaut, so wie der „romantische“ Hof hinter der Apotheke in der Hainstraße. Diese Enge in der inneren Stadt, die weder Platz für modernere Wohnansprüche noch für die Erweiterung z.B. der in der Innenstadt befindlichen Druckereien und Buchhandlungen ließ, führte seit den 1830er Jahren zu den ersten planmäßigen Stadterweiterungen. In der Marien- und Friedrichstadt (nordöstlich der Querstraße zwischen Eisenbahn- und Dresdener Straße) entstanden in diesen Jahren neue Wohnviertel „mit schönen, von Gärten umgebenen Häusern, die durch ihre lieblichen und großartigen Gebäude das Auge entzücken“. Als eines der letzten erhaltenen Zeugnisse dieses noblen Bauens im klassizistischen Stil steht heute noch das Schumannhaus in der Inselstraße 18, das Clara und Robert Schumann 1840 bezogen. In Inselstraße Nr. 5 wohnte Georg Binder, laut Fontane Herausgeber zweier literarischen Zeitschriften, der als einer der ersten auf das dichterische Talent des Apothekergehilfen aufmerksam geworden war. (Das Adressbuch von 1842 verzeichnet ihn als Kunsthändler und Inhaber einer Kupfer- und Stahlstecherei). Als Gast bewundert Fontane dessen „in einer Vorstadt gelegenes, ganz modernes Haus mit Salon und kleinen Außentreppen und Balkonen“. Die Friedrich- und Marienstadt wurde in der Folgezeit bevorzugtes Ouartier für die Ansiedlung der großen graphischen Betriebe, hier entstand das berühmte „Graphische Viertel“ von Leipzig, – auch das im Dezember 1943 weitgehend zerstört.

Die Poststraße war nicht ganz so präsentabel. Die alte Vorstadtgasse verlief parallel zum Grimmaischen Steinweg nach Süden und wurde stadtseitig vom Augustusplatz und dem sogenannten oberen Park mit seinen um 1800 auf dem ehemaligen Stadtgraben angelegten Grünanlagen mit Schneckenberg und Schwanenteich begrenzt. Die Bahnhofstraße lief dazwischen als Allee in Richtung der drei Bahnhöfe. Hier wohnten die Reichen und Schönen, wie z.B. der Bankier Frege mit seiner Gattin, der berühmten Sängerin Livia. Dahinter breiteten sich nach Süden bis zur Quergasse ausgedehnte Gärten aus.

Die alte Poststraße als Verbindung zwischen Bahnhofstraße und Quergasse zeigte sich baulich und sozial mit zwei Gesichtern: An der zu den Gärten gelegenen Ostseite lagen barocke Landhäuser, langgestreckte Bauten mit Pferdeställen und z.T. mit „Niederlagen“ für die Geschäfte ihrer Besitzer: des Verlagsbuchhändlers Johann Ambrosius Barth, oder der Kaufmannsfamilien Liebeskind/Platzmann/ Limburger. Ganz anders die nach dem Grimmaischen Steinweg gerichtete Westseite mit schlichten zwei- bis viergeschossigen Wohnhäusern in geschlossener Bebauung, die Untergeschosse massiv, darüber verputztes Fachwerk – eine typische Vorstadtstraße, wie es sie bis zum zweiten Weltkrieg noch in anderen Stadtvierteln gab.

Die erhaltenen Bauakten geben Einblick in das Innenleben dieser vorstädtischen Mietshäuser, die nach 1800 vielfach umgebaut, aufgestockt und ergänzt worden waren. Die Erdgeschosse enthielten häufig Verkaufsläden der Handwerker, die hier wohnten und die Hinterhöfe unermüdlich mit neuen Nebengebäuden für ihre Werkstätten bebauten: Töpfer, Zimmerer, Schneider, Schlosser, Schuster, Fleischer mit Schlachthaus im Hof. Fast in jedem Haus gab es eine Schankwirtschaft.

Hell und ruhig kann es in diesen Höfen jedenfalls nicht gewesen sein. Die Wohnungen selbst waren sehr klein, entsprechend der hier lebenden ärmeren Vorstadtbevölkerung: Bedienstete, Handlanger, kleine Beamte. In der Regel gab es eine Wohnung pro Geschoß, mit ein bis zwei Stuben, Kammer und Küche. Im Dachgeschoß lagen mit Brettern verschlagene Kammern, die noch vor dem ersten Weltkrieg als Elendsquartiere bewohnt waren.

Es ist schwer vorstellbar, dass die Familie von August Fontane, wohlbestallter Angestellter der „Königlich sächsischen concessionierten Bilderrahmen und Holzbronzefabrik“ „von Pietro del Vecchio, dem in diesem Metier führenden Haus in Leipzig, in dieser ärmlichen Umgebung lebte. Einzig etwas komfortabler war das Haus Nr. 16, das pro Geschoss zwei Stuben, drei Kammern und Küche enthielt.

Die Bebauung der gegenüberliegenden Straßenseite erscheint aus entgegengesetzten Gründen nicht passend. Diese Häuser waren nicht als Mietshäuser gebaut, sie enthielten große herrschaftliche Wohnungen mit Salon bzw. Geschäftsräume oder eine „Bibliotheque“.

Wo auch immer: In der „freundlichen“ Poststraße entfaltete der Rekonvaleszent erneut ein fröhliches Leben mit dem wie eh und je fidelen Onkel August. Als ehemaliger Kunstmaler war dieser mit seinem Sachverstand und kommunikativen Talent vielleicht doch bei der Kunsthandlung del Vecchio an der richtigen Stelle, obwohl der Neffe in seinen Erinnerungen etwas herablassend von einem „Unterschlupf“ schreibt. An die fröhliche Zeit in der Poststraße schloss sich für diesen ein weiterer Versuch an, als Apotheker Fuß zu fassen. Die Zeit in der bekannten Struveschen Apotheke in Dresden endete nach einem glücklichen Jahr mit der Rückkehr nach Leipzig und nachdem sich auch hier die Aussicht, sich mit Hilfe eines einflussreichen Verlegers und der aus Dresden mitgebrachten literarischen Arbeiten als Schriftsteller zu etablieren, zerschlug, blieb nur die Rückkehr ins Elternhaus.

Auch das so liebevoll-kritisch geschilderte Paar Onkel August und Tante Pinchen hielt es offenbar nicht lange in Leipzig. 1849 sollen sie nach Amerika ausgewandert sein.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.