Fontane-Kreis Zeuthen: Fontanes „Stechlin“ – Wunschbild und Wirklichkeit

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Text: Dr. Joachim Kleine

Unter diesem Motto widmete sich der 15. Zeuthener Fontanetag
am 8. Juni 2013 dem letzten Roman, den Theodor Fontane zwischen 1895-98
vollendet und noch selbst zum Druck gegeben hat. In einem weit gespannten
Gesellschaftspanorama aus dem Berlin und der Mark Brandenburg der 1890er Jahre
gibt sein Verfasser darin ein durch die milde Sonne seines Lebensabends
verklärtes Bild vom märkischen Adel, wie er „sein sollte und wie er ist“. Mit vielen
Gesprächen und Selbstgesprächen seiner Romanfiguren verflocht Fontane eigene
Ansichten und Einsichten. Viele von ihnen sind sprichwörtlich geworden. „Der Stechlin“
gilt darum als „Vermächtnisroman“ des alten Fontane. Jedenfalls ist es ein gedanklich ungemein dichtes Werk,
reich an zeitgeschichtlichen Andeutungen und Anspielungen, das sich – so leicht
und erhebend es sich lesen lässt – Lesern von heute in seiner ganzen Tiefe eigentlich
erst durch „Entschlüsselung“ erschließt. Dazu sollten die Darbietungen im
Zeuthener DESY beitragen. Wie ihr lebhaftes Echo unter den rund 60 Zuhörern zeigte,
ist ihnen das auch gelungen. 

Zwei Vorträge und eine szenische Lesung hatten wir
angekündigt. Den „Aperitif“ reichte uns Klaus-Peter Möller,
Sachkenner hohen Grades, hatte er doch das Buch im Rahmen der Großen
Brandenburger Ausgabe neu herausgebracht und den 455-Seiten-Roman auf 256
Seiten ausgiebig erläutert. Es war ein reines Vergnügen zu hören, wie er sein
Thema: „Der ‚Stechlin’ als Herausforderung für Leser, Interpreten und
Kommentarsklaven“ in einen Spaziergang durch den Alltag eines Herausgebers
verwandelte. Auf dem Weg von seiner Gardedragonerkaserne vor dem Hallischen Tor
zu den Barbys am Kronprinzenufer fällt Woldemars Blick auf „ein wohl zwanzig Fuß hohes riesiges
Kaffeemädchen“, das den Vorübereilenden ein Päckchen „Kneippschen Malzkaffee“
anbot. Angesichts dieser von Theodor Fontane scheinbar nur beiläufig erwähnten Wandreklame,
ließ uns Herr Möller zunächst an seiner Suche nach dem Vorbild und möglichen
Sinngehalt dieser Figur teilnehmen, projizierte Liotards Pastellbild eines
Schokoladenmädchens und – nach einer Serie ähnlicher Gestalten – schließlich
jene junge Frau mit „einem ganz kleinen Häubchen auf dem Kopf“ an die Wand, die
Fontanes Beschreibung entsprach. Im Inseratenteil einer alten Zeitschrift hatte
er sie schließlich gefunden. Ein Bild des durch seine Kaltwasserkuren damals
berühmt gewordenen Wörishofener Pfarrers Sebastian Kneipp folgte, und Gedanken über
einen jener Wohltäter der Menschheit schlossen sich an, zu denen und deren
segensreichem Wirken sich Pastor Lorenzen im Roman später bekennt und – wie
Theodor Fontane selbst – in sie seine Hoffnungen setzt. Wie die Sonne in einem
Wassertropfen, so schien in dieser Szenerie nicht nur ein Stück Berliner Leben
der 1890er Jahre, sondern das humanistische Bekenntnis Fontanes zur „neuen
Zeit“, die anbricht, vor unseren Augen auf. Das dieses Bekenntnis, so klar und
unmissverständlich es zu sein scheint, im Verlaufe des 20. Jahrhunderts dennoch
auf die unterschiedlichste Weise ausgelegt und in Anspruch genommen wurde, ließ
Herr Möller am Vergleich der Vorworte dreier ansonsten satzidentischer Reclam-Ausgaben
des Romans von 1929 (verfasst von Thomas Mann), 1934 (von Walter Linden) und
etwa 1950 (von Paul Rilla) deutlich werden. 

Ähnlich – und doch
wieder ganz anders – leitete Rolf Zuberbühler,
literaturkundiger Germanist und Fontaneverehrer aus Gerlikon / Schweiz, die
Vorstellung seines Buches „DER STECHLIN. Fontanes politischer Altersroman im
Lichte der ‚Vossischen Zeitung’…“ mit
einem weit gespannten Überblick über die atemberaubenden
wissenschaftlich-technischen, wirtschaftlichen und politisch-sozialen
Änderungen der modernen Welt im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ein und
schilderte, wie sich dieser Anbruch der „neuen Zeit“ damals in der liberalen „Vossischen Zeitung“, dem Leib- und
Magenblatt des alten Fontane, und in noch anderen Zeitungen und Zeitschriften
spiegelte, die Fontane regelmäßig las, in denen er gelegentlich auch selbst
Stellung zu aufregenden Geschehnissen bezog. Wie vor ihm Klaus-Peter
Möller, so demonstrierte Rolf
Zuberbühler an wenigen, vom flüchtigen Leser kaum zu bemerkenden
Worten und Wendungen, deren sich Fontane im Roman bediente, an Episoden und
Anekdoten, die er mit der Handlung verflocht, Fontanes Methode der
Anverwandlung wirklicher Orte, Personen
und zeitgeschichtlicher Ereignisse an seine künstlerische Absicht und Komposition.
So etwa daran, was die von Woldemars Freund Rex beim Betrachten der Glaskugel
vor dem Stechliner Gutshaus fallengelassene Bemerkung „Industriestaat!“ mit der
Wirtschafts- und Handelspolitik des damaligen Reichskanzlers Caprivi zu tun
hatte. Oder daran, dass Fontane die im „Wahlkapitel“ des Romans vom Gutsherr
Molchow belustigt zum Besten gegebene Anekdote, wie Bismarck in jungen Jahren eine
„reichen Amerikanerin“ durch eine Berliner Gemäldegalerie geführt, deren Bilder
er vorher nie gesehen und – so von Molchow – „mutmaßlich alle falsch erklärt“
hatte, offenbar der in der „Vossin“ vom
20. August 1895 mitgeteilten „Bismarckerinnerung“ einer schwedischen Dame
verdankte. Beachtet man den von Fontane gelegentlich hoch geschätzten
Kunstverstand Bismarcks, so liest man diese Episode als spöttische
Charakteristik der Banalität des Junkers
Molchow, dem nur daran gelegen war, der Begebenheit einen Biertischwitz
abzugewinnen. Mit Nachdruck verdeutlichte Herr Zuberbühler an Textstellen
des „Stechlin“, dass man dessen zuletzt liberal gesonnenen Autor wohl den
freien und humanen Sinn zubilligen muss, den er im
Roman „Ausnahmeerscheinungen“ wie dem alten Dubslav von Stechlin und Pastor
Lorenzen, auch dem Grafen Barby beilegte und mit dem er sich selbst vom Adel,
„wie er ist“, doch auch vom Manchesterkapitalismus seiner Zeit kritisch
distanzierte. Aber ein Parteigänger – gleich welcher Richtung – war er nicht. Mit
dem „Stechlin“, so lässt sich Rolf Zuberbühlers
Vortrag auf den Punkt bringen, bekannte sich Theodor Fontane zu einem humanen
Wunschbild der „neuen Zeit“, dem sich die Menschheit – nach den fürchterlichen
Irrwegen, Kriegskatastrophen, und missratenen Revolutionen des 20. Jahrhunderts
– bis heute nur schrittweise, teilweise, zeitweise zu nähern vermochte. – Die
Lesung von Zitaten aus dem Roman durch Edith Krauß
und Joachim Kleine wurde auch von
anwesenden Experten wie Gotthard Erler
und Paul Anderson als
nachahmenswerte Auflockerung des anspruchsvollen (und mit anderthalb Stunden
Dauer etwas langen) Vortrags empfunden.

Unter dem Motto „Eine neue Zeit bricht an…“ setzte nachmittags
die szenische Lesung des „Stechlin“ durch das Zeuthener Hube-Hosfeld-Ensemble
den Schluss- und – so darf man sagen – den Glanzpunkt des Tages. Den Text eines
solchen fast 500seitigen epischen Werkes für ein Anderthalbstundenprogramm so
auszuwählen, zu verknappen und mit ebenso einfühlsamen wie sparsamen
Überleitungen miteinander zu verknüpfen, dass ihn die Zuhörer nicht als
Aneinanderreihung von Ausschnitten, sondern als ein Ganzes empfinden, setzt Respekt
vor dem Kunstwerk ebenso wie Vertrautheit mit ihm und seinem Hintergrund voraus. Solche Sachkenntnis und solchen Respekt bewiesen zu
haben, dies vor allem kann man dem Ensemble und seinen dienstbaren Geistern hinter
den Kulissen bescheinigen. Ihre Auswahl setzte zwei deutliche Akzente:
Ausführlich wird Fontanes Entfaltung des Romans im ersten Kapitel und die
Einführung der hauptsächlichen Träger der Handlung – die Stechlins und die
Barbys mit ihren wichtigsten Bezugspersonen – wiedergegeben, so dass auch Zuhörer, die den Roman noch nicht kennen,
ins Bild versetzt werden. Der dann folgende Verlauf des Geschehens leitet zügig
zum Hauptteil über, der – nach kurzer Pause – mit der fast vollständigen Wiedergabe
des 29. Kapitels, der Begräbnisszene und des Romanschlusses die ideellen „Bekenntnisse“ des Romans aufs
deutlichste hervorhebt. Der werksgemäßen sprachlichen Darbietung der Texte zeigten
sich Brigitte Hube-Hosfeld und Wolfgang Hosfeld – beide Schauspieler mit
langjähriger Bühnenerfahrung – wie schon in vorausgegangenen Fontaneinterpretationen –
vollauf gewachsen, wobei Frau Hube-Hosfelds stimmlich-sprachliches
Modulationsvermögen – sie trug nicht nur die weiblichen Rollen, sondern auch
die des Erzählers und die Überleitungstexte – besonders gepriesen sei. Brigitte
Breitkreuz setzte mit ihrem Zupfinstrument – für manche überraschend – wohltuende Töne an Anfang, Ende
und zwischen das Gesprochene.

Lang anhaltender, herzlicher Beifall dankte den Akteuren für ihre Kunst.

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